Beim Jubiläum geht´s um dumme Rohre und intelligente Netze

17.02.2016

Das Oldenburger Rohrleitungsforum stand in diesem Jahr im Zeichen eines Jubiläums. Das Institut für Rohrleitungsbau an der Fachhochschule Oldenburg e.V. ging mit der Ausrichtung dieser für die Fachleute der unterirdischen Infrastruktur so wichtigen Veranstaltung mit der 30. Auflage in das vierte Jahrzehnt. Und wer meinte, dass dem Forum so langsam die Themen ausgehen, der sah sich getäuscht: „Dumme“ Rohre – „Intelligente“ Netze lautete diesmal das nur auf den ersten Blick provokante Motto eines Branchentreffs, der sich seinen Kultstatus beileibe nicht nur mit dem „Ollnburger Gröönkohlabend“ erarbeitet hat, der den ersten Veranstaltungstag traditionell beschließt.

Bis zum letzten Quadratzentimeter ausgenutzte Ausstellungsflächen, mit Besuchern geradezu überfüllte Vortragssäle und Fachhochschulflure – das sind die Indizien, die nur annäherungsweise deutlich machen, was da an zwei Tagen im Februar in Oldenburg Jahr für Jahr passiert. Alle wollen hin, jeder möchte dabei sein; und wer nicht kommen kann, ist zu Recht enttäuscht, denn die Neuerungen der Technik, aber auch die permanent steigenden Anforderungen an Leitungsnetze machen die Tagung für den Wissens- und Technologietransfer geradezu unentbehrlich.

Modelle, Simulation und Steuerung

Das gilt auch für die Jubiläumsveranstaltung, auf der insbesondere über Modelle, Simulation und Steuerung von Infrastrukturen diskutiert werden soll. „Rohrleitungsnetze sollen domänenübergreifend funktionieren sowie situationsbedingt möglichst flexibel zu steuern sein, und von Rohrleitungsnetzen werden zunehmend intelligente Eigenschaften verlangt“, erläutert Prof. Thomas Wegener, Vorstandsmitglied des Instituts für Rohrleitungsbau an der Fachhochschule Oldenburg e.V., Geschäftsführer der iro GmbH Oldenburg und Vizepräsident der Jade Hochschule.

Das betrifft den Abwasser- und Entwässerungsbereich mit zunehmenden Starkregenereignissen ebenso wie den Trinkwasserbereich im Gesamtkonzept, zum Beispiel mit saisonal oder in längeren Perioden stark schwankender Nutzung. In den Erdgasnetzen und hier insbesondere in den Verteilnetzen führen geringere Absatzzahlen im jüngeren oder durchsanierten Baubestand zu Neuauslegung oder Ausdünnung der Druckreduzieranlagen. Und auch der Blick ins Stromnetz lohnt: Was bedeutet es für ein verknüpftes Netz, wenn ein Sturmtief nach dem anderen über das Land fegt und Unmengen an Windenergie liefert, oder wenn tagsüber bei Windstille eine Sonnenfinsternis herrscht?

Digitalisierung schreitet voran

Modelle, Simulation und Steuerung – schon die Begriffe stellen den direkten Bezug zu den fortschreitenden Möglichkeiten der Digitalisierung auch im Infrastrukturbereich her. Im Abwasser-/Entwässerungsbereich bereitet die Abführung der zunehmend intensiveren Niederschlagsereignisse Probleme. Neue und ausgeklügelte Netze werden nicht ohne Modelle, ohne Modellrechnungen gefunden werden. Im Trinkwasserversorgungsbereich ist die Gesamtkonzeption des Netzes häufig von wenigen Verbrauchern oder auch von saisonalen Ereignissen bestimmt. Wie darauf baulich und betrieblich zu reagieren ist, lässt sich nur durch Modellrechnung und Simulationstechnik ermitteln.

Geringere Absatzzahlen in der Erdgasversorgung erlauben Neuauslegung oder Ausdünnung der Druckreduzieranlagen besonders im jüngeren oder durchsanierten Baubestand. Die zunehmende Diversifizierung der Energieversorgung mit der flächendeckenden Verschneidung unterschiedlicher Domänen erfordert umfangreiche Überlegungen und Modellspiele, wenn man die Sicherheit der Energieversorgung nicht ernsthaft gefährden möchte. „Die gedankliche Kette ‚Simulation – Modell – Messen – Steuern – Regeln’ bildet somit fast zwangsläufig den roten Faden des 30. Oldenburger Rohrleitungsforums“, ist Wegener überzeugt.

Die Begrifflichkeiten machen zudem deutlich, worum es geht, nämlich moderne und vor allem zukunftsträchtige Lösungen zu finden für unsere Leitungsnetze – egal ob für Wasser, Gas, Abwasser oder Strom. Berücksichtigt werden müssen dabei die unterschiedlichen Anforderungen, welche die Rahmenbedingungen vorgeben: die Energiewende, die Erzeugung alternativer Energien und deren Verteilung, der Ausstieg aus der Kernenergie, der demografische Wandel und der Klimawandel, um die wichtigsten zu nennen. Es gilt, ein Netz zu schaffen, welches eine bedarfsgerechte Verteilung und damit auch Versorgungssicherheit sicherstellt – und das möglichst unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten.

Das scheinbar dumme Rohr ist in diesem Szenario eine wichtige Komponente, das seine Bedeutung durch die Aneinanderreihung zu einem Rohrstrang, zu einem Netz, gewinnt. Doch diese haben beileibe nicht mehr nur eine Transportaufgabe zu lösen: Die Anforderungen sind durchaus komplexer geworden. Steuerung heißt das Zauberwort, auch domänenübergreifend und für alle Medien.

Anpassungsfähigkeit gefragt

Und bei der Umsetzung der Aufgaben ist Anpassungsfähigkeit gefragt: Diese Meinung vertritt Dipl.-Ing. Axel Frerichs, Fachbereichsleiter Leitungswesen im Oldenburgisch-Ostfriesischer Wasserverband (OOWV), Brake. Der Entsorger aus der Region hat in den letzten Jahren viel in die Sanierung gesteckt, aber auch in den Neubau des Netzes. „Mehr denn je wird die Sicherheit in der Trinkwasserversorgung und Abwasserentsorgung von ‚intelligenten‘ Netzen abhängen“, ist Frerichs überzeugt.

Der Oldenburgisch-Ostfriesische Wasserverband betreibt im Bereich der Trinkwassernetze Leitungen mit einer Gesamtlänge von 14.099 Kilometern. Im Bereich der Abwasserentsorgung summiert sich die Kanallänge auf 4.285 Kilometer. Am Beispiel Oldenburg wird deutlich, dass die Natur eine immer größere Herausforderung darstellt: Starkregenereignisse nehmen zu und überlasten immer häufiger die Entwässerungssysteme. „Deshalb streben wir beispielsweise in Oldenburg an kritischen Punkten bei Überflutungsgefahr eine Regulierung der Verkehrsführung an“, beschreibt Frerichs ein aktuelles Projekt, bei dem Autofahrer künftig rechtzeitig vor der Gefahr durch überflutete Straßenabschnitte gewarnt werden sollen.

Vorausdenken nötig

Andererseits führe auch die Überdimensionierung von Kanälen zu Problemen. Der Ruf nach einer „Flexibilisierung der Netze“ werde laut. Dabei müsse man wissen, dass im Bereich der Kanäle über Nutzungsdauern von 70 bis 100 Jahren gesprochen werde. „Jeder kann sich ausmalen, was es kostet, wenn für Jahrzehnte geplante Kanäle schon nach wenigen Jahren an neue Anforderungen angepasst und ausgetauscht werden müssen“, so der Fachbereichsleiter des OOWV.

Ähnliches gelte für die Leistungsfähigkeit der Trinkwassernetze: Hitzeperioden lassen den Wasserbedarf zeitweise dramatisch steigen. Sogenannte Jahrhundert-Sommer folgen schneller aufeinander. So auch in 2015: Am 02. Juli verzeichnete der OOWV bei der Abgabe von Trinkwasser eine Rekord-Tagesmenge von 311.029 Kubikmetern. „Die Anlagen und Netze der Zukunft müssen solchen Verbrauchsspitzen gewachsen sein“, stellt Frerichs unmissverständlich fest. Er sieht die kommunale Infrastruktur deshalb vor der großen Herausforderung, die Anlagen und Netze schneller als bisher gewohnt den verändernden Einflussfaktoren anpassen zu müssen. Die Netze der Zukunft müssen intelligent geplant und modern steuerbar sein: Deshalb ist mehr denn je ein Vorausdenken gefragt, lautet Frerichs Fazit.

Mit dieser Einschätzung befindet sich Frerichs durchaus im Schulterschluss mit Dr.-Ing. Dirk Waider, Mitglied des Vorstands der GELSENWASSER AG, Gelsenkirchen – zumal, wenn es darum geht, Trinkwassernetze zu entwickeln und zu gestalten. GELSENWASSER schützt seine Gastransportleitungen sowie zahlreiche Wassertransportleitungen und Gasnetze aus Stahl aktiv kathodisch gegen Korrosion. So gelangen Messdaten regelmäßig und quasi in Echtzeit an die verantwortlichen Mitarbeiter. Schäden werden so zeitnah sichtbar.

Auch entwickeln Rohrhersteller – zum Beispiel im PE-Bereich – ihre Rohre weiter: So werden helle Schichten zur besseren Sichtbarkeit bei Kamerabefahrungen, Indikatorschichten zur Ermittlung unzulässig tiefer Kerben und Riefen oder elektrisch leitfähige Schichten zur unmittelbaren Schadensdetektion in die Rohre integriert. Sogar am Einbau von Sensoren wird geforscht. „Betrachtet man den Begriff der ‚intelligenten Rohrsysteme‘ aber umfassender, ergeben sich weitere nennenswerte Einflüsse der Digitalisierung“, stellt Waider fest.

Intelligenz und Digitalisierung im Betrieb „dummer“ Rohre

So organisiert GELSENWASSER Arbeiten zum Betrieb der Rohre mithilfe einer sogenannten FFA-Software. Informationen von der Baustelle gelangen so in Echtzeit in die technischen und kaufmännischen Systeme und umgekehrt. Diese Systeme tragen nicht nur zur Effizienzsteigerung bei, sondern auch zu einer erheblich schnelleren Dokumentation von technischen Veränderungen in den vorhandenen Betriebsmittelinformationssystemen.

„Unter anderem werden Zustandsinformationen vor Ort im mobilen Gerät (Handheld-PC) aufgenommen, automatisch mit einer Koordinate (GPS) versehen und ins Geografische Informationssystem (GIS) überspielt“, erläutert Waider. Andersherum kann der Mitarbeiter vor Ort sich schnell in der Örtlichkeit orientieren: In der geöffneten Anwendung wird seine aktuelle Position dargestellt, und er kann sich notwendige Betriebsmittelinformationen direkt ansehen. Dies ist insbesondere im Bereitschaftsdienst eine wichtige Hilfestellung.

Wasserverlust-Management

Darüber hinaus rüstet das Trinkwasserversorgungsunternehmen sein ca. 6.300 km langes Verbundnetz mit weiteren Messstellen aus. Dazu werden Investitionen von ca. 1,5 Mio. € getätigt. Durchflüsse und Drücke liegen dann flächendeckend an maßgeblichen Stellen im Verbundnetz vor. Damit lassen sich Rohrschäden und besondere Abnahmekonstellationen im Prozessleitsystem zeitnah erkennen. Die Versorgungssicherheit wird dadurch weiter gestärkt, und Wasserverluste lassen sich zusätzlich reduzieren.

Eine weitere Alternative stellen auf Hydranten angebrachte Funklogger dar. Diese können mithilfe eines Repeaters (z. B. angebracht an einer Straßenlaterne) und einer Master-Box mit Modem-Funktion (z. B. installiert auf Hausdächern) ihre Messdaten innerhalb kürzester Zeit an die entsprechenden Systeme im Unternehmen kommunizieren. Auch hier können besondere Ereignisse, insbesondere Rohrschäden, quasi in Echtzeit ermittelt und somit Wasserverluste reduziert werden.

Intelligenz und Digitalisierung in Verwaltung und Dokumentation

Außerdem wird die Wasserverteilungsanlage im GIS dokumentiert. Basierend auf dem GIS bietet das Unternehmen den Kunden – in diesem Fall insbesondere Planern und Baufirmen – die Möglichkeit, Planauskünfte über das Internet abzurufen. Inzwischen können die Daten sogar auf dem Smartphone dargestellt werden. Auch in der Örtlichkeit können die Daten so aufgerufen werden. Zudem ist ein Verschneiden mit weiteren Diensten möglich. So können etwa unmittelbar vor Ort Luftbilder hinterlegt werden oder beispielsweise Informationen aus sogenannten „WMS-Diensten“ eingeblendet werden (z. B. Naturschutzgebiete, o. ä.).

Digitalisierung in der Krisenkommunikation

Waider belegt mit einem aktuellen Beispiel, dass die Kommunikationsgeschwindigkeit sich in den letzten Jahren vervielfacht hat. Im Falle eines kapitalen Rohrschadens in einer Konzessionsgemeinde hatte ein Facebook-Nutzer in kürzester Zeit nach dem Rohrbruch bereits ein Foto in eine Facebook-Gruppe eingestellt. 8.500 Facebook-User dieser Gruppe hatten so in kürzester Zeit Kenntnis von diesem Schaden. Da GELSENWASSER selbst in solchen Foren aktiv ist, konnten die bereits eingeleiteten Arbeiten zur Störungsbeseitigung sowie aktuelle Informationen z. B. zu Ersatzhaltestellen des ÖPNV sowie zu weiteren Details den Nutzern dieser Gruppe unmittelbar zur Verfügung gestellt werden. Nutzer und Anwohner haben sich in diesem konkreten Fall für den Service bedankt. „Wir konnten uns hier als kompetenter und ‚mit der Zeit gehender‘ Versorger trotz des unangenehmen Anlasses darstellen“, ist Waider überzeugt.

Viel mehr als ein länglicher Hohlkörper

Auch Dipl.-Ing. Kay Borchelt hat ganz konkrete Vorstellungen, was aus „dummen“ Rohren werden kann. „Für viele ist ein Rohr nur ein länglicher Hohlkörper, dessen Länge in der Regel wesentlich größer als sein Durchmesser ist“, erläutert der Geschäftsführer der Gastransport Nord GmbH, Oldenburg. Schon in der Antike wurden Rohrleitungen aus Holz zur Wasserversorgung verwendet, so etwa bei Pergamon oder auch in Köln. Und bereits in der Antike steckte jede Menge Intelligenz in den aus damals „dummen“ Rohren hergestellten Leitungen.

Im Laufe der Jahrhunderte haben sich mit der Entwicklung der Technik auch die Rohrwerkstoffe verändert. „Heute sind selbst die Rohre oder Werkstoffe, aus denen sie hergestellt sind, intelligent“, so Borchelt. „Es gibt vielfältigste Rohrwerkstoffe, die speziell auf bestimmte Anwendungen ausgelegt sind. Kunststoff, Stahl, Glas, Keramik, Beton, Verbund- oder Composite-Werkstoffe sind gängige Praxis, und wir sprechen über ‚Intelligente Rohrsysteme durch smarte Kombination verschiedener Werkstoffe’“.

Gleichzeitig steigen die Anforderungen an die Effizienz von Rohrleitungsnetzen immer mehr, und die Netzbetreiber verwenden moderne Simulationssoftware zur Auslegung und Optimierung ihrer Netze. Im Rahmen der Energieregulierung überwacht die Bundesnetzagentur (BNetzA) die Erstellung des Netzentwicklungsplanes der 16 deutschen Gas-Fernleitungsnetzbetreiber (FNB). Aus den unterschiedlichen Modellierungsmethoden der FNB’s entwickelt die BNetzA eine Gesamtnetzmodellierung der nationalen Fernleitungsnetze.

Aus diesen Beispielen wird deutlich: Nicht nur im einzelnen Rohr, einer einfachen Leitung, einem komplexen Rohrnetz, sondern auch in dem Zusammenwirken von den verschiedenen Netzen steckt Intelligenz. „Dieses Zusammenwirken von intelligenten Netzen unterschiedlichster Medien wie zum Beispiel Wärme, Gas, Wasser, Abwasser oder Strom wird die Zukunft der Rohrleitungsnetze bestimmen“, wirft Borchelt einen Blick voraus.

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