BIM im Infrastrukturbau
14.12.2021
Digitale Wettbewerbsfähigkeit und Klimaschutz verbinden
Von Christoph F.-J. Schröder
Unsere Umwelt wird durch Technik geprägt, entworfen von Ingenieurinnen und Ingenieuren. Diese Aufgabe muss verantwortungsvoll gegenüber der Gesellschaft ausgeübt werden. Manche Ergebnisse technischer Entwürfe mögen aus heutiger Sicht nicht immer wünschenswert sein. Und es scheint auch oft so, als wurde in der Vergangenheit teilweise nicht mit der Natur, sondern eher gegen sie gearbeitet. Richtig ist aber auch: Ohne Technik werden wir die Herausforderungen der Zukunft nicht meistern können. Eine Voraussetzung hierfür ist die Digitalisierung aller Prozesse bei Planung, Bau, Betrieb und Rückbau, insbesondere bei Anlagen der öffentlichen Infrastruktur.
Der BIM-Leitfaden des Bundes stellte schon vor Jahren fest:
„1.3.1 Einbeziehung von Infrastruktur und Ingenieurbau
Der überwiegende Teil der Projekte mit BIM im In- und Ausland ist auf den Hochbau konzentriert. Es gibt auch Erfahrungen in den Bereichen Infrastruktur- und Ingenieurbau (Brücken, Kanalisierung, Straße und Schiene) sowie bei der Anbindung zur Geodäsie. Der Ansatz und die Nutzung der BIM-Methodik sind hier ähnlich, der Leitfaden kann hierzu auch als Referenz genutzt werden.“ [1]
Nun ist noch ein gutes Stück des Wegs zu gehen, bis BIM als Methodik das tägliche Planungs-, Bau- und Betriebsgeschehen bei der öffentlichen Infrastruktur durchdrungen haben wird. Beispielsweise war es jahrzehntelang geübte Praxis, das von festen Flächen ablaufende Wasser in Kanäle abfließen zu lassen. Mehr denn je muss es zukünftig heißen: Die Kanalisation ist keine Lösung für Starkregen; Retention durch oberflächennahe Entwässerungssysteme sowie der gezielte Abfluss in unkritische Gebiete müssen das Planen bestimmen. Dazu gehört auf jeden Fall die sogenannte Doppelnutzung, zum Beispiel von Sportplätzen. Wenn Straßenräume überflutet werden, sollten sie so entworfen sein, dass sie den Oberflächenabfluss schadlos abführen können.
Auch Bauherrenschaften sollten erkennen, dass ein Verzicht auf vermarktbaren Baugrund und stattdessen das Reservieren von Teilflächen für Retention und oberflächliche Ableitung am Ende günstiger kommen als eine spätere Schadensbeseitigung. Die Befassung mit dem Baugrund und seiner Wassergeeignetheit muss zum Standardrepertoire in der Planung gehören.
BIM im gesamten Lebenszyklus der Infrastruktur
BIM ermöglicht die Integration von Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung in die Ingenieurpraxis. Oft wird es allein mit einer 3-D-Visualisierung in Verbindung gebracht, doch es kann natürlich mehr: Außer der 4. und 5. Dimension, der Zeit- und Kostenplanung, müssen die 6. Dimension – Nachhaltigkeit und Ressourcen – und die 7. Dimension – die Betriebsphase – in den Blick genommen werden.
Die BIM-Methodik hat den gesamten Lebenszyklus von Infrastruktur zu umspannen: von der Planung über den Bau und Betrieb bis hin zum Rückbau.
Die BIM-Entwicklung ist überwiegend planungsgetrieben. Für den Betrieb fehlen vielfach noch die Modelle, explizit der digitale Zwilling mit den entsprechenden Attributen des Betriebs. Bisher steht bei der Methodik überwiegend der Hochbau im Fokus; eine große Herausforderung stellt jedoch die Ausgestaltung der Infrastruktur dar, denn 70 % ihrer Lebenszykluskosten liegen in den Betriebsjahren. Beispielhafte Attribute der 6. Dimension könnten somit sein:
- Wie werden Starkregeneinflüsse und Überflutungshäufigkeiten erfasst?
- Wie wird die Flächenbeanspruchung durch offene Entwässerungssysteme beschrieben?
- Wird der Stand der Technik nach dem Wasserhaushaltsgesetz tatsächlich berücksichtigt, also der Verbrauch an Rohstoffen?
- Wie wird der betriebliche Aufwand eines Kanalnetzes angesetzt?
- Wie dazu im Vergleich der von offenen Entwässerungssystemen?
- Wie wird der hydraulische und ökologische Stress von kleinen Gewässern bewertet, in die bei Starkregen unbehandelter Straßenabfluss eingeleitet wird?
Werden diese Parameter erfasst und gehen sie in Abwägungsentscheidungen ein?
Die Einschätzung der Wasserwirtschaftler, was das natürliche System verträgt, sollte vor der eigentlichen Planung eingeholt werden. Ziel muss eine wassersensible Stadtentwicklung sein, die nicht nur Starkregenereignisse, sondern auch die Aufheizung der Städte betrifft. Bürger durch Sirenen vor Überflutungsgefahren zu warnen, reicht alleine nicht aus. Durch eine gestärkte Eigenverantwortung, digital bereitgestellte und verständlich aufbereitete Baugrundaufschlüsse in Zusammenhang mit digitalen Geländemodellierungen wird eine hilfreiche Visualisierung zum Aufzeigen von Risiken erst möglich (siehe Abb. 3).
Wenn die Zukunft digital sein soll, dann muss das fehlerfrei funktionieren: In den Überschwemmungsgebieten in Rheinland-Pfalz und NRW hat in Teilen die digitale Kommunikation versagt. Immerhin war der Radioempfang noch möglich.
Wiederverwendung statt Wiederverwertung
Im Straßenbau ist es leider noch nicht überall anerkannte Regel der Technik, bei Sanierungen den vorhandenen Straßenaufbruch schichtenweise separat zu fräsen, dem Mischwerk zuzuführen und wieder einzubauen. Wiederverwendung, nicht nur Wiederverwertung. Die Verfahren hierzu sind bekannt und erprobt. Dabei sind die ökologischen Aspekte offensichtlich und lassen sich in der „6. Dimension“ erfassen. Hier ergeben sich beispielhaft nachstehende Fragen:
- Wie viele Ressourcen werden beim Abbau von Gesteinskörnungen in natürlichen Vorkommen verbraucht?
- Wie wird der Naturverlust durch Steinbrüche bewertet?
- Wie sieht die CO2-Bilanz des Transports aus Steinbrüchen zum Mischwerk aus?
- Wie wird eine Entsorgung bewertet?
- Wie wird der Pfad des Bindemittels Bitumen bewertet?
Das Kreislaufwirtschaftsgesetz gibt die Richtung vor. Es kann somit nicht unser Weg sein, Straßenaufbruch auch Deponien zuzuführen. Die Herausforderungen liegen nicht bei Außerortsstraßen, sondern bei Stadtstraßen mit einem hohen Anspruch an die Nutzung. Die Straßenraumgestaltung ist als Ganzes zu sehen, nicht nur technische Details betreffend. Das cradle-to-cradle-Prinzip, nicht cradle-to-grave, muss das Ziel sein. Wir müssen jetzt Lösungen erproben und weiterentwickeln, die uns helfen, Nachhaltigkeit und Ressourcenschutz zu erreichen. Das darf nicht den nächsten Generationen überlassen bleiben.
Über den Moment hinausdenken
Das Kostenargument, das gerne nachhaltigen technischen Lösungen entgegengestellt wird, betrachtet finanzielle Aufwendungen in der Regel nur aus einer Momentaufnahme heraus. Daher sind folgende Fragestellungen zielführend: Wann entstehen Kosten? Wer wird sie schultern müssen? Wie sieht eine Kostenbilanz zu einem späteren Zeitpunkt aus? Diese und noch mehr Aspekte müssen in BIM eingestellt werden. Dadurch entsteht eine echte nachhaltige und digitale Planungs-, Bau- und Betriebskultur sowie eine Erhaltungsstrategie. Kritische Stimmen mögen anmerken: „Wir sollten es zunächst schaffen, die ersten drei BIM-Dimensionen vollumfänglich zu begreifen und allgemein zu institutionalisieren.“. Das sollte uns allerdings nicht hindern, darüber hinauszudenken.
Ingenieure entwickeln Lösungen, die sie den Bauherren, ob öffentlich oder privat, anbieten. Resilienz spielt hierbei eine Rolle. Unsere Vorfahren haben es noch kurz und knapp auf den Punkt gebracht: „Da bauen wir nicht.“ Es ist zu nass, zu steil, zu nah am Ufer etc. Ingenieurinnen und Ingenieure, deren Aufgabe es ist, Lösungen anzubieten, sollten demnach auch heute sagen können: „Lieber Bauherr, deinen Vorstellungen sollte nicht gefolgt werden.“
Die Honorierung von Ingenieurleistungen
Durch die frühe Vernetzung von Fachplanungen im Planungsprozess ergeben sich Verschiebungen, die den Aufwand stärker in frühe Planungsphasen verschieben. Durch die BIM-basierten Prozesse verringert sich der Aufwand jedoch nicht. Die Planung muss die nachfolgende Ausführungs- und Betriebszeit fest in den Blick nehmen und in den digitalen Revisionsunterlagen abbilden. Das führt zu einem klaren Credo gegen das noch gängige Streben nach einer „den Bau begleitenden“ Planung. Auch BIM darf diesem Ansinnen keinen Vorschub leisten. Nicht erst die „Reformkommission Bau von Großprojekten“ [4] hat festgestellt: Erst planen, dann bauen. Das gilt selbstredend für jedes Projekt.
Wir benötigen einen fairen Wettbewerb, der hilft, die Struktur der kleinteiligen deutschen Ingenieurbürolandschaft als Qualitätsvorteil zu begreifen und der die Ingenieurleistung angemessen honoriert. So muss aus Sicht der Bundesingenieurkammer die Frage gestellt und beantwortet werden, wie das erarbeitete BIM-Wissen „massentauglich“ wird. Ausweislich der Daten des Statistischen Bundesamts sind in den Ingenieurbüros durchschnittlich sechs Personen beschäftigt. Wie können kleinere und mittelgroße Ingenieurbüros an der digitalen Zukunft partizipieren? Entbürokratisierte Förderprogramme müssen weiterlaufen und verstärkt werden, damit sie von kleinen Büros abgerufen werden können.
Das bedeutet außerdem: Statt Vergaben allein am Preis zu entscheiden, müssen – den eingeführten Spielregeln entsprechend – Leistungswettbewerbe die Regel sein. Das kleine, aber mit den ortsspezifischen Gegebenheiten vertraute Büro kann die bessere Wahl sein. Manche Leistung wird bei gedrückten Honoraren billig erbracht, ist aber nicht den Preis wert. Um hier einen durchgängig nachhaltigen und wirtschaftlichen Prozess zu starten, kann BIM einen echten Mehrwert erbringen.
Was von den den Ingenieursberuf Ausübenden möglicherweise leicht übersehen werden kann, ist der kaufmännische Blick als Teil der ökonomischen Wirtschaftlichkeitsbetrachtung. Zum Beispiel, wenn Abrisse als erste Wahl angesehen werden. Eine vollumfängliche Wirtschaftlichkeitsbetrachtung attribuiert Fragen wie: Wie wird das Anlagevermögen bewertet? Wie gehen Sonderabschreibungen beim Abriss vor dem theoretischen und praktischen Lebenszeitende in die Kostendimension ein? Wie wird der Einsatz von höherwertigen Baustoffen mit Auswirkung auf die Lebenszeit angesetzt?
Gerne wird das Wort „wirtschaftlich“ im Planungsprozess benutzt. Meistens sind damit die reinen Herstellungskosten gemeint. Schon im Planungsprozess wird vergessen, dass in allen zusätzlichen Ausgaben ca. 70 % der Lebenszykluskosten eines Bauwerks zu Buche schlagen. Und wie z. B. die Brückenprüfung die nächsten Dekaden mit dem Bauwerk klarkommt, wird nicht selten ausgeblendet. Die digitale Datenlage kann fundierte Hilfen bei der Erhaltung liefern. Wer billig plant, baut und betreibt teuer.
Wie gut beherrscht die Seite der Auftraggebenden BIM?
In Zahlen ausgedrückt: Die Planung beansprucht ca. 5 % der Zeit und 2 % der Kosten über den gesamten Lebenszyklus eines Bauwerks hinweg. Der Bau benötigt ca. 10 % der Zeit und 15 % der Kosten und der Betrieb 75 % der Zeit und 70 % der Kosten. Rückbauplanung und Rückbau schlagen mit 10 % der Zeit und 10 % der Kosten zu Buche. Was beim Rückbau entscheidend sein kann und bisher eher selten angesetzt wird, sind Erlöse, die bei einer nachhaltigen Planung nach dem cradle-to-cradle-Prinzip anfallen können. Wie werden diese attribuiert?
Werden die Prozesse einmal von der Betriebsphase aus gedacht, sollte das dort tätige Personal den „digitalen Zwilling“ eines Bauwerks zur Hand haben. Dann ergäbe sich ein deutlich umfassenderes Bild. Unabhängig von BIM sollte keine Planung verabschiedet werden, ohne dass die für den Betrieb und die Erhaltung Verantwortlichen den Entwurf gegengezeichnet haben.
Dabei spielt auch eine Rolle, wie gut die Auftraggeberseite beim Thema BIM aufgestellt ist. Die großen Player wie z. B. die Deges oder die Deutsche Bahn haben es bereits gut integriert. Aber trifft das auch für die vielen kleinen Gemeinden und Kreise zu? Von 650.000 km Straßen sind nur 13.000 km Autobahnen und die meisten Brücken und Kanäle befinden sich nicht im Fernstraßennetz. Und tausende Kilometer Leitungssysteme liegen überwiegend in kommunalen Straßen.
Wenn BIM überall zügig im Arbeitsalltag ankommen soll, sieht die Bundesingenieurkammer nicht zuletzt die Politik in der Pflicht. Sie muss dazu beitragen, die Voraussetzungen für einheitliche (Software-)Standards auf jeder Prozessebene, d. h. von der Projektidee – „Phase 0“ – bis zum Betrieb, zu schaffen. Hierzu werden klar beschriebene Schnittstellen und Definitionen für den Datenaustausch unter den verschiedenen Gewerken und den Beteiligten aus Behörden und Leitungsunternehmen benötigt. Für die öffentliche Infrastruktur sollten umfassende Objektlisten mit klaren Attribuierungen aufgebaut werden.
Gut ausgebildeter Nachwuchs
Wir befinden uns am Anfang eines Klimawandels, dessen Auswirkungen für spätere Generationen Dramatisches befürchten lässt, wenn wir jetzt nicht handeln. Um diesen Wandel mit Kreativität zu gestalten, benötigen wir kompetente junge Ingenieurinnen und Ingenieure. Das bedingt eine solide und konstante sowie unabhängige Hochschulfinanzierung, die gut ausgebildete Menschen in das Ingenieurwesen entlässt. Zuvor eine gesellschaftliche Kultur, in der es nicht mehr cool ist, mit seinen schlechten Mathekenntnissen zu kokettieren.
Wir müssen mehr denn je die Frage beantworten, anhand welcher Wertmaßstäbe wir Lösungen anbieten wollen. Nutzen wir unsere Chancen, mit der BIM-Methodik auf allen Ebenen des Bauens und mit allen am Bau Beteiligten zukunftsweisenden Grundsätzen zu folgen.
Literatur
[1] BIM-Leitfaden für Deutschland - Information und Ratgeber, Endbericht; ZukunftBAU, ein Forschungsprogramm des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS), 2013
[2] www.gesetze-im-internet.de
[3] https://geoportal-hamburg.de/geo-online/
[4] Reformkommission Bau von Großprojekten - Endbericht; Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur, Berlin 2015
Link auf die Veröffentlichung dieses Artikels:
https://www.ingenieurbau-online.de/deutsches-ingenieurblatt/archiv/fachartikeldetail/bim-im-infrastrukturbau
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