Schätzungen gehen davon aus, dass das unterirdische Anlagevermögen in Deutschland einen Wiederbeschaffungswert von mindestens 400 Mrd. Euro aufweist (ohne private Entwässerungsanlagen). Damit wird deutlich, dass die zerstörende Wirkung des Sulfids durch biogene Korrosion einen gewaltigen volkswirtschaftlichen Schaden anrichten kann. Die Kosten für die Renovation werden auf ca. 54 Mrd. Euro beziffert mit steigender Tendenz. Abwasserbauwerke werden für eine Nutzungsdauer von 50 bis 100 Jahre (LAWA) geplant und entsprechend abgeschrieben. Praktische Beispiele zeigen jedoch, dass die Nutzungsdauer durch biogene Schwefelsäurekorrosion unter 10 Jahre liegen kann. Nach Weißenberger (Norwegen 2002) beträgt die Korrosionsrate für Beton bei einer Schwefelwasserstoff-Konzentration von nur 5 ppm (parts per million = 1/106) bereits ca. 11 mm pro Jahr. Daher überrascht es nicht, wenn Abwasserbauwerke in extremen Fällen sogar schon nach nur 3 Jahren nach Inbetriebnahme ganz renoviert werden mussten. Abgesehen von den Renovierungskosten kann sich der Wertverlust aufgrund der viel kürzeren Nutzungsdauer und der damit verbundenen hohen Abschreibungen gewaltig erhöhen, was sich schließlich auch auf die Höhe der Abwassergebühren spürbar auswirken dürfte.
In Anbetracht der schleichenden Zerstörungsgefahr für das unterirdische Anlagevermögen (Abwasserbauwerke, Pumpwerke etc.) durch biogene Schwefelsäure-Korrosion, der Gesundheits- und Lebensgefahr für Menschen durch das tödlich wirkende Nervengas H
2S bei einer Konzentration von über ca. 500 ppm (zulässiger MAK-Wert 10 ppm), der intensiven Geruchsbelästigung für Menschen durch Fäulnis- und Schwefelbakterien, der Kostenerhöhung für Wartung und Renovation sowie der Probleme (Blähschlamm) bei der Abwasserreinigung in Belebungsbecken bis hin zur Hemmung der Methanentwicklung in Faulbehältern durch sulfidhaltiges Abwasser bzw. Schwefelwasserstoff, stellt das Sulfidproblem eines der größten Probleme im Abwasserbereich dar.
Je intensiver man sich damit befasst, umso mehr geht einem ein Licht auf, dass manche bisherige Lehrmeinung im krassen Gegensatz zum Sulfidproblem zu stehen scheint und daher fragwürdig erscheint. Dies bezieht sich unter Berücksichtigung der demografischen Entwicklung in Europa insbesondere auf den verständlichen Ehrgeiz, den Trinkwasserverbrauch, die damit verbundene Abwassereinleitung, die Infiltration von Fremdwasser und den Wartungsaufwand zu verringern. Daher stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob das Sulfidproblem als größtes und folgenschwerstes von allen Übeln im Kanalnetz nicht Priorität verdient.
Abwasser besteht bekanntlich aus einer Vielzahl gelöster und nicht gelöster Inhaltsstoffe, wovon Schwefelverbindungen, insbesondere Schwefelwasserstoff (H
2S) von besonderer Bedeutung sind. Auf dem langen Weg (bis > 50 km) vom Indirekteinleiter bis zur Kläranlage kommt es zur Mischung verschiedener Abwässer. Dabei entstehen gelöste Sulfide (S
2-) durch Schwefelverbindungen im Abwasser, anaerobe Verhältnisse durch Sauerstoffmangel, eine ausreichende Wassertemperatur und die Entwicklung von Bakterien (Thiobazillen). Sulfide sind Salze des Schwefelwasserstoffs, die durch biochemische Vorgänge im Abwasser entstehen und/oder die durch Indirekteinleiter (häusliches, gewerbliches und industrielles Schmutzwasser) in das Kanalnetz gelangen. Dabei wird das Gefährdungspotential des Sulfids durch sulfidfreies Fremdwasser (Infiltration von Grundwasser, Fehlanschlüsse) und durch Niederschlagswasser aufgrund der verdünnenden Wirkung eher verringert. Die Entstehung von Sulfiden ist die Voraussetzung für die Ausgasung von Schwefelwasserstoff in die Kanalatmosphäre, wobei das nach faulen Eiern riechende Gas schwerer als Luft ist und daher im Sohlbereich oder im Gasraum über der Abwasseroberfläche des Kanalnetzes auftritt. Durch bakterielle Zersetzung entsteht daraus an feuchten Stellen biogene Schwefelsäure (H
2S + 2O
2 > H
2SO
4), die für die berüchtigte biogene Korrosion in Abwassernetzen maßgeblich verantwortlich ist. Die schädliche Schwefelsäureproduktion ist nur möglich, wenn in der Kanalatmosphäre genügend ausgasender Schwefelwasserstoff vorhanden ist.
Welche Bedingungen haben nun Einfluss auf das Sulfidproblem? Bei sinkender Abwassermenge (z. B. durch die demographische Bevölkerungsentwicklung, durch Einsparung von Trink- und Brauchwasser, durch weniger sulfidfreies Fremd- und Niederschlagswasser in der Kanalisation) verringern sich die Fließgeschwindigkeit und die Schlepp- und Wandschubspannung, demzufolge erhöhen sich die Ablagerungen, das Sielhautwachstum, die Aufnahme von Sulfiden und die Sauerstoffzehrung im Kanal. Wesentlichen Einfluss auf die Ausgasung von Schwefelwasserstoff haben also Sielhäute (Biomasse) an den Wandflächen bis ca. 10 mm Dicke und Feststoffe, die sich durch Unterschreiten der kritischen Fließgeschwindigkeit (vkrit) im Sohlbereich der Entwässerungssysteme ablagern. Bei höheren Abwasser- und Lufttemperaturen kommt es zur vermehrten Sulfidbildung, insbesondere über 150 C. Daher treten im Sommer bzw. in wärmeren Klimazonen vermehrt Geruchsprobleme auf. Auch pH-Werte zwischen 5,0 und 9,0 im Abwasser wirken sich auf die Sulfidbildung und die Ausgasung von Schwefelwasserstoff aus. Bei einem pH-Wert von über 9,0 ist mit keiner Ausgasung mehr zu rechnen. Auch der Sauerstoffhaushalt im Abwasser hat Einfluss auf die Sulfidbildung. Bei aeroben Verhältnissen im Abwasser und in der Kanalatmosphäre ist keine Sulfidbildung zu erwarten.
Um Sulfidprobleme zu verhindern, ist eine H
2S-Konzentration von < 0,5 ppm erforderlich. Daher ist der Einsatz geeigneter Chemikalien (Wasserstoffperoxid, Eisensuspensionen, Kaliumpermanganat, Alkalisierungsstoffe etc.) in Verbindung mit aufwendiger Dosiertechnik bekannt, um die Probleme in den Griff zu bekommen. Dazu müssen die Hauptparameter, wie der H
2S-und der O
2-Gehalt im Abwasser durch Analyse festgestellt werden. Die Chemikalien haben vornehmlich zum Ziel, aerobe Verhältnisse im Kanal herzustellen bzw. zu erhalten, anaerobe Bakterien zu verhindern, vorhandene Sulfide zu oxidieren, oder im Abwasser gebildete Sulfide als Metallsalze zu fällen, um die Ausgasung von H
2S zu verhindern. Bei der Fällung nehmen allerdings die Schlammablagerungen im Kanal durch Bildung von Eisensulfid zu, die jedoch durch Saug-Spültechnik entfernt werden können. Vor- und Nachteile der Dosiermittel sind also zu beachten.
Experten stellten fest, dass die Sulfidbildung weniger im Abwasser, sondern überwiegend in der Sielhaut und in den Sohlablagerungen des Abwassernetzes stattfindet. Daher kommt der Wartung der Kanalnetze als Schutzmaßnahme eine zunehmende Bedeutung zu, da dadurch nicht nur die hydraulische Abflussfunktion sichergestellt wird, sondern auch wesentliche Sulfidquellen entfernt werden. Dabei stellt sich die Frage, welche von den Reinigungsstrategien unter Berücksichtigung des Sulfidproblems langfristig betrachtet die günstigere ist, die kostenorientierte Bedarfsreinigung (Feuerwehrstrategie), die bedarfsgerechte Kanalreinigung (Ablagerungsstrategie) oder die turnusmäßige Systemreinigung (Präventivstrategie). Die Bedarfsreinigung zählt sicher nicht dazu. Es ist der Eindruck entstanden, dass sich die einschlägigen Institute zwar auch intensiv mit Reinigungsstrategien befassen, dabei aber ganzheitliche Betrachtungen, gerade auch im Hinblick auf das Sulfidproblem, scheinbar außer Acht lassen.
Bei der Kanalreinigung hat sich bekanntlich das HD-Spülverfahren überwiegend mit Saug-Spülfahrzeugen durchgesetzt, wobei diese heute mit Wasseraufbereitungssystemen zur Einsparung von Trinkwasser und zur Erhöhung der Reinigungseffizienz dominieren. Dabei wird Abwasser aus dem Kanal angesaugt und der HD-Pumpe über das Wasseraufbereitungssystem und die Wasserkammer als gefiltertes Spülwasser zur Verfügung gestellt. Von der HD-Pumpe wird das Spülwasser durch einen Spülschlauch und eine Spüldüse mit hoher Strömungsgeschwindigkeit (ca. 120 - 145 m/s je nach Volumenstrom der HD-Pumpe) in die Kanalisation eingeleitet. Unter Berücksichtigung des Sulfidproblems würde es Sinn machen, solche Reinigungsfahrzeuge öfter auch mal mit Frischwasser zur Verdünnung und nicht nur mit konzentriertem Abwasser aus dem Kanal als Spülwasser zu betreiben, zumal der Sulfidgehalt im Spülwasser durch eine mechanische Wasseraufbereitung (Filterung) vermutlich kaum verändert wird. Gleichzeitig wird durch die Venturiwirkung der Spüldüse (je nach Volumenstrom der HD-Pumpe) eine Luftbewegung durch Unterdruck (saugende Lüftung) und dadurch ein Luftwechsel im Kanal bei geöffneten Schachtabdeckungen erzeugt. Auch dieser (kostenlose) Nebeneffekt trägt dazu bei, dass der ausgegaste Schwefelwasserstoff mit Luft verdünnt und das Sulfidproblem im Kanalnetz gemindert wird. Dabei können allerdings unerwünschte Auswirkungen (Über- oder Unterdrücke) in Anschlussleitungen auftreten.
Als weitere Anwendung eines Reinigungsfahrzeuges ist vielleicht auch eine Dosierung von geeigneten Chemikalien (siehe oben) in das Spülwasser der Wasserkammer denkbar mit dem Ziel, beim Spülprozess günstigere (aerobe) Zustände im Kanalnetz durch Desinfektion zu erzeugen, um der Sulfidproblematik auch im Rahmen der Wartung wirksamer zu begegnen. Dazu stehen geeignete Spüldüsen (z. B. Rotationsdüsen) zur Verfügung, mit denen der gesamte Rohrumfang bestrahlt werden kann. Dabei muss allerdings gewährleistet sein, dass die aufbauseitigen Aggregate (Behälter, Leitungen, Armaturen, Pumpen, Spülschläuche, Spüldüsen) nicht durch die Chemikalien angegriffen werden. Vielleicht können die Zeitabstände der Reinigungszyklen in Kanalnetzen dadurch sogar verlängert werden. Im Hinblick auf die Sulfid-Problematik wäre also die HD-Reinigung geeignet, mehrere Aufgaben in einem Arbeitsgang effizient zu erfüllen. Für diesen Vorschlag fehlen allerdings noch wissenschaftliche Erkenntnisse und Beweise. Es wäre sicher im Sinne der Netzbetreiber zu begrüßen, wenn die für die unterirdische Infrastruktur zuständigen Hochschulen und Institute durch entsprechende Forschungsergebnisse zur Lösung des Sulfidproblems beitragen würden.
Fazit: Das seit langer Zeit bekannte Sulfidproblem im Abwasserbereich wird zunehmend brisanter, da es neben gesundheitlichen und tödlichen Gefahren vor allem wirtschaftliche Folgen verursacht, die man als Netzbetreiber nicht unterschätzen darf. Daher macht es Sinn, sich hiermit auch im Rahmen der Wartung zu befassen, zumal Ablagerungen und Sielhäute in Kanalnetzen wesentliche Sulfidquellen darstellen, aus denen durch biochemische Umsetzung gefährlicher Schwefelwasserstoff und Korrosionsgefahr durch Schwefelsäure entstehen kann. Daher sollte jeder Netzbetreiber Reinigungsstrategien anwenden, die auch zur Sulfidproblematik passen. Die HD-Reinigung trägt maßgeblich zur Minderung des Sulfidproblems bei, wobei vielleicht noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Daher sollte einmal unter Anwendung der HD-Spültechnik in Verbindung mit geeigneten Chemikalien versucht werden, das Sulfidproblem durch eine desinfizierende Wirkung im Kanal stärker zu bekämpfen. Das zu erforschen wäre vielleicht eine lohnende Aufgabe für Hochschulen und Institute.
Literatur: Merkblatt ATV-M168, Juli 1998.
Internet-Veröffentlichung Prof. Dr. Dillmann 2007, Hauptsammler Düsseldorf, Sammler Frankfurt / Main.
Sulfid-Praxishandbuch der Abwassertechnik, Vulkan-Verlag 2007.