Der Instandhaltungscheck (InCH)
11.07.2022
Quick-Check für Werterhalt von Kanalisationen
von Robert Stein und Karsten Kerres
Einleitung und Hintergrund
Die Länge des bundesdeutschen Kanalnetzes betrug 2016 gem. einer Umfrage der Deutschen Vereinigung für Wasserwirtschaft, Abwasser und Abfall e.V. (DWA) 594.334 km (Berger et al., 2020). Der spezifische Wiederbeschaffungswert des Kanalnetzes wird in diesen Untersuchungen mit 1.794 €/m angegeben. Bezogen auf die Gesamtlänge des bundesdeutschen Kanalnetzes ergibt sich somit eine Größenordnung von 1,1 Billionen € allein als Wiederbeschaffungswert für die Abwasserkanäle.
Betrachtet man die Altersverteilung im Kanalnetz, so sind rd. 33 % der Kanäle älter als 50 Jahre, 15 % älter als 75 Jahre und 8 % sogar älter als 100 Jahre. Insgesamt besteht ein kurz- bis mittelfristiger Sanierungsbedarf auf etwa einem Fünftel der Gesamtlänge des öffentlichen Kanalnetzes (Berger et al., 2020). Hinzu kommt, dass eine fortschreitende Alterung von Abwassersystemen zu beobachten ist und damit die Anpassung der Investitionen zum Werterhalt der Abwasseranlagen und zur Sicherstellung ihrer Funktionalität notwendig sein wird.
Mit großem Engagement betreiben und unterhalten daher viele Städte und Gemeinden ihre Entwässerungssysteme. Sie stehen vor die Herausforderung, die knappen öffentlichen Mittel möglichst zielgerichtet einzusetzen, um dieses i.d.R. größte kommunale Anlagenvermögen auch für zukünftige Generationen zu erhalten bzw. sogar zu vergrößern. Die Zielstellung ihres Handelns ist i.d.R. die Reduzierung der kritischen Schäden, der Vermögenserhalt und die Verstetigung der Gebührenentwicklung. Die Erreichung dieser Ziele wird in der Zukunft signifikant schwerer: Einerseits ist in aller Regel ein erheblicher Abgang erfahrener Kolleginnen und Kollegen bei gleichzeitig zunehmender Schwierigkeit offene Stellen nachzubesetzen zu erwarten. Zum anderen stehen, wie oben geschildert, die großen Investitionen in die Sanierung der alternden Abwasserinfrastruktur erst bevor.
Eine belastbare mittel- bis langfristige Investitionsplanung bedingt zwingend die Kenntnis der zukünftigen Netzentwicklung, die neben der Zustandsklassenentwicklung auch eine Buchwertbetrachtung und insbesondere die Ermittlung der Substanz(wert)entwicklung der Anlagengüter umfasst.
Um Zustands- und Substanzverschlechterung bei einer ressourcenoptimierten Instandhaltung berücksichtigen zu können, ist derzeit der Einsatz stochastischer Alterungsmodelle zwingend erforderlich. Die Anwendung dieser Modelle ist allerdings sehr aufwändig und für kleinere oder mittlere Netzbetreiber mit erheblichen Kosten verbunden. Für eine vereinfachte Standortbestimmung wurde daher der Instandhaltungscheck (InCH) als bedeutende Hilfestellung entwickelt. Als alternativer Schnelltest vereinfacht er die Entwicklung von Instandhaltungsstrategien für Kanalnetzbetreiber in innovativer Weise ohne aufwändige netzspezifische Zustandsentwicklungsprognosen.
Bisherige Methodik zur Instandhaltungsbewertung von Kanalisationsnetzen mit Hilfe stochastischer Alterungsmodelle
Jedwede Bewertung von technischen/baulichen Investitionsobjekten mit dem Ziel der Instandhaltung des Objektes zur Sicherstellung der ordnungsgemäßen Nutzung im Rahmen der geplanten Nutzungsdauer erfordert eine Erfassung der technisch-baulichen Situation. Die Erfassung erfolgt bei Kanalisationsnetzen durch Inaugenscheinnahme bzw. optische Inspektion mittels Kanal-TV-Untersuchungen.
Im Anschluss erfolgt die Bewertung der technisch-baulichen Situation anhand eines einheitlichen Bewertungsmaßstabes, der in technischen Regelwerken der DWA definiert ist.
Die erreichten Bewertungsergebnisse stellen jedoch nur die Situation zum Zeitpunkt der Inspektion dar und liefern damit nur eine eingeschränkte Aussage mit Bezug auf die Vergangenheit, da sich der Zeitraum einer netzweiten Erfassung in der Regel über mehrere Jahre erstreckt. Gegenwarts- oder zukunftsbezogene Aussagen lassen sich ausschließlich mit Prognosemodellen treffen, die die Bewertungsaussagen in einen zeitlichen Kontext (z.B. Alter) stellen. Dabei werden die Daten der baulichen Ist-Situation in Bezug zum jeweiligen Alter des Kanalobjektes gesetzt und aus den resultierenden statistischen Verteilungen Überlebensfunktionen abgeleitet, die die Basis für das Alterungs- und Prognosemodell bilden.
Im Bereich der Abwasserentsorgungsnetze existieren durch systematische und netzweite Kanalinspektionen mittlerweile umfangreiche netzindividuelle und detaillierte Datengrundlagen zum Zustand der Kanalisation. Bereits 1984/1985 erfolgte eine umfangreiche bundesweite Umfrage zum Zustand der Kanalisation, die sich auf die damals noch nicht netzabdeckenden und damit lückenhaften Inspektionsergebnisse der teilnehmenden Betreiber stützte. Seitdem hat sich der Datenbestand erheblich vergrößert, die Netze sind im Regelfall flächendeckend inspiziert. Bedingt durch die Vorgaben unterschiedlicher Inspektionsverordnungen auf Länderebene liegen aktuell für die meisten Kanäle mehr als nur eine Wiederholungsinspektion vor.
Durch die umfangreiche Datenbasis lassen sich im Regelfall netzspezifische Alterungsmodelle ableiten, bei denen keine Notwendigkeit besteht, empirische Daten zur Modellbildung heranzuziehen. In Verbindung mit den objektscharfen Inspektionsergebnissen lassen sich die Ergebnisse von Entwicklungsprognosen dadurch nicht nur im Netzkontext auswerten, sondern auch auf Einzelobjektebene projizieren und damit für die weitere Sanierungsplanung als Planungsunterstützung verwenden.
Allen stochastischen Ansätzen gemein ist, dass sie bei entsprechend fachgerechter Anwendung belastbare Entwicklungsprognosen über die tatsächlich gegenwärtigen sowie zukünftigen Sanierungsbedarfe der betrachteten Netze liefern. Weiterhin ist ihnen aber auch gemein, dass der Einsatz dieser Modelle ein vertieftes mathematisch-statistisches Hintergrundwissen und Modellerfahrungen erfordert. Aus diesem Grund sind entsprechende Untersuchungen und Prognosen im Regelfall langwierige mehrmonatige Beratungsprojekte, in denen die komplexe Fragestellung und die erzielten Ergebnisse für eine weitere planerische Verwendung intensiv aufbereitet werden.
Innovativer Ansatz
Grundidee des Instandhaltungschecks (InCH) ist, Betreibern von Kanalisationsnetzen eine einfache Einordnung bzw. Bewertung ihrer Instandhaltungsstrategie zu ermöglichen und Wege aufzuzeigen ggf. erkannte Defizite in der Strategie zu beheben.
Der Instandhaltungscheck stellt ein innovatives Instrument dar, mit dem der aktuelle Instandhaltungsumfang für die Kanalisation einer Kommune in Bezug auf die Zustandsentwicklung und den nachhaltigen Substanzerhalt in Form eines Quick-Checks bewertet werden kann. Der Instandhaltungsbedarf, der für den mittel- bis langfristigen Substanzerhalt (Erhalt der baulichen Substanz und Vermögenserhalt) erforderlich ist, wird hierbei über Kennzahlen ohne aufwändige netzspezifische Zustandsentwicklungsprognosen abgeschätzt. Auf diese Weise kann die gegenwärtige Instandhaltungspraxis untersucht und in Hinblick auf die Zukunftsfähigkeit der aktuellen strategischen Ausrichtung von Inspektion und insbesondere Sanierung bewertet werden.
Hierzu werden über einen Fragebogen netzspezifische Informationen und Kennzahlen abgefragt sowie zusätzlich relevante Netzdaten wie Stamm-, Inspektions- und Schadensdaten über die Schnittstelle nach DWA-M 150 übernommen. Auf Basis der importierten Daten wird mit Hilfe einer synthetischen Standardalterungsfunktion die Zustands- und Substanzentwicklung des Netzes für die kommenden Jahre prognostiziert. Der Check hat dabei eine Gültigkeit für die nächsten 5 - 20 Jahre.
Unter Berücksichtigung dieser Netzentwicklung überprüft und analysiert der Instandhaltungscheck die Wirksamkeit des aktuellen Handelns der Kanalnetzbetreiber. Mit dem Instandhaltungscheck lassen sich für Betreiber ihre bisherige Reinvestitions- und Instandhaltungsstrategien überprüfen, um Effektivität und Effizienz einzusetzender monetärer, technischer und personeller Ressourcen im Sinne des Vermögenserhalt weiter zu optimieren. Als Ergebnis werden Handlungsoptionen aufgezeigt, die angepasst an ihre technischen Erfordernisse und wirtschaftlichen Möglichkeiten eine langfristige Netzbewirtschaftung ermöglicht.
Beispiel
Nachfolgend werden beispielhaft zwei Auswertungen des Instandhaltungschecks auf die Entwicklung der durchschnittlichen Sanierungspriorität und der Substanzentwicklung für einer Musterstadt (F) dargestellt.
Das Bild 2 zeigt die Entwicklung der Zustandsklassen (ZK) im betrachteten Netz bei ungestörter Netzalterung, d.h. ohne Sanierungsintervention auf der Basis der übergebenen Netzdaten (Stamm- und Zustandsdaten) und dem Standardalterungsmodell. Die Schadensklasse ZK0 bezeichnet nach DWA-M 149-3 (DWA, 2015) Haltungen mit einem „sehr starken Mangel“ und sofortigen Handlungsbedarf (hohe Priorität).
Der Anteil von ZK0 beträgt im Jahr 2020 ca. 25 % und erhöht sich bei ungestörter Netzalterung auf ca. 60 %. Ergänzend ist auch die durchschnittliche Entwicklung der Sanierungspriorität sowohl ohne Sanierungsintervention (rot) als auch mit Fortführung der aktuellen Sanierungsaktivitäten (grün) dargestellt. Im Jahr 2020 liegt der Mittelwert der Sanierungspriorität bei ca. 53 %. Ohne Sanierungsintervention wächst dieser innerhalb von 30 Jahren um 27 %, steigt also auf 80% an. Demgegenüber reduziert sich die mittlere Sanierungspriorität bei Fortführung der Sanierungsaktivitäten (grün) in 30 Jahren um ca. 13 %. Unter Berücksichtigung der prognostizierten Zustandsklassenentwicklung reduziert sich die mittlere Sanierungspriorität sogar um 40 %. Damit wird nahezu die prognostizierte Zunahme der Schadensklasse ZK0 kompensiert.
Bild 3 stellt die Entwicklung der Klassen der baulichen Substanz als Ausdruck des zukünftig wahrscheinlich zu erwartenden Sanierungsaufwandes (Reparatur, Renovierung oder Erneuerung) dar. Dabei bedeuten die Substanzklasse SBK 0, dass der vorhanden Abnutzungsvorrat der Haltung aufgebraucht ist und mindestens ein Renovierungs-, wenn nicht sogar Erneuerungsbedarf besteht.
Zusätzlich zu der Entwicklung der Substanzklassenanteile, die ohne Sanierungsintervention zwangsläufig durch eine Zunahme der absorbierenden Substanzklasse SBK 0 gekennzeichnet ist, werden die zur durchschnittlichen Substanz verdichteten Substanzklassen dargestellt. Dabei wird einmal die Substanz ohne Sanierungsintervention (rot) und zum anderen mit Sanierungsintervention durch Renovierung und Erneuerung als substanzverbessernde Sanierungsverfahren (grün) dargestellt.
Zum Betrachtungszeitpunkt (Jahr 2020) verfügt das Netz mit einem durchschnittlichen relativen Substanzwert von > 60 %. Dieser liegt mehr als 10 Prozentpunkten oberhalb der DWA-Regelwerksempfehlung aus DWA-A 143-14 (DWA, 2017) zum durchschnittlichen Substanzwert und ist für ein gewachsenes Netz als gut zu bezeichnen. Ohne Sanierungsintervention nimmt dieser Wert zügig ab, und fällt in Richtung des Minimums von 20% aus DWA-A 143-14 (DWA, 2017). Die Zunahme der Klassenanteile in der absorbierenden Substanzklasse SBK 0 ist der augenfälligste Ausdruck dafür und ein Hinweis auf den zunehmenden Renovierungs- und Erneuerungsbedarf.
Demgegenüber findet bei der Substanzentwicklung mit Sanierungsintervention (grün) auch ein Absinken des Durchschnittswertes statt, jedoch nähert sich die Entwicklung der 50%-Empfehlung und stabilisiert sich deutlich oberhalb. Eine solche Entwicklung ist bei ausreichendem Maßnahmenbudget und einem vergleichsweise jungen Netzdurchschnittsalter nicht ungewöhnlich.
Zusammenfassend bedeuten die Ergebnisse im vorliegenden Fall, dass das Maßnahmenbudget ausreichend ist und ein zukünftiger Substanzverzehr vermieden wir; eine umfassendere Strategiebetrachtung erscheint nicht erforderlich, da Netz und Netzinstandhaltung gut aufgestellt sind.
Fazit
Mit dem Instandhaltungscheck (InCH) steht ein aufwandsreduziertes und somit niedrigschwelliges Instrument zur Verfügung, mit dem der wahrscheinliche aktuelle und zukünftige Sanierungsbedarf sowohl hinsichtlich der Dringlichkeit als auch hinsichtlich des zu erwartenden Maßnahmenumfangs hinreichend belastbar bestimmt werden kann. Naturgemäß wird die Detail- und Aussageschärfe einer deutlich umfangreicheren strategischen Sanierungskonzeption nicht erreicht. Für eine gesicherte Einschätzung der Auswirkung des aktuellen Sanierungshandeln auf die zukünftige Netzsituation sind die Ergebnisse, wie verschiedene Forschungsvorhaben zeigen, aber ausreichend belastbar. Entscheidungen für ggf. vertiefende Betrachtungen über die zukünftig zu verfolgende Sanierungsstrategie im Unternehmen werden damit erleichtert.
Literatur
Berger, C.; Falk, C.; Hetzel, F.; Pinnekamp, J.; Ruppelt, J.; Schleiffer, P.; Schmitt, J. (2020): Zustand der Kanalisation in Deutschland – Ergebnisse der DWA-Umfrage 2020. KA Korrespondenz Abwasser, Abfall, 67. Jahrgang, Heft 12/2020, S. 939 – 953, Dezember 2020
DWA (2017): Arbeitsblatt DWA-A 143-14 Sanierung von Entwässerungssystemen außerhalb von Gebäuden - Teil 14: Entwicklung einer Sanierungsstrategie. Deutsche Vereinigung für Wasserwirtschaft, Abwasser und Abfall e. V. (DWA), Hennef. August 2017.
DWA (2015): Merkblatt DWA-M 149-3 - Zustandserfassung und -beurteilung von Entwässerungssystemen außerhalb von Gebäuden - Teil 3: Beurteilung nach optischer Inspektion - April 2015; Stand: korrigierte Fassung Oktober 2016
Die Autoren
Dr.-Ing. Robert Stein, STEIN Infrastructure Management GmbH
Konrad-Zuse-Str. 6, 44801 Bochum
E-Mail: robert.stein@stein.de
Prof. Dr.-Ing. Karsten Kerres, Fachhochschule Aachen
Fachbereich 2 Bauingenieurwesen, Lehrgebiet Netzmanagement
Bayernallee 9, 52066 Aachen
E-Mail: kerres@fh-aachen.de
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