Die Lutter bekommt ein neues Bett
01.03.2016
Kanalsanierungsarbeiten in Bielefeld mit Linearverbau gesichert
Die Lutter ist ein 12,1 km langer Bach auf dem Stadtgebiet der nordrhein-westfälischen kreisfreien Großstadt Bielefeld. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der Bach verrohrt und floss seitdem unterirdisch in rund 5 m Tiefe. Nach mehr als 100 Jahren war der hierfür angelegte Kanal schadhaft geworden und musste saniert werden.
In der Diskussion um einen von der Stadt Bielefeld bereits Ende 2010 vorgestellten ersten Sanierungsplan wurde der Wunsch nach alternativen Vorschlägen deutlich, um einerseits die Anliegen der Anwohner für den Erhalt einer bedeutenden Platanenallee und andererseits die des Vereins Lutter e. V. einzubeziehen, der sich für die teilweise oberirdische Führung der Lutter einsetzt. In Zusammenarbeit mit der PFI Planungsgesellschaft GbR und unter intensiver Beteiligung von Öffentlichkeit und Politik hat der Umweltbetrieb der Stadt Bielefeld ein Gesamtkonzept entwickelt, das wasser- und bautechnische sowie städtische Anforderungen berücksichtigt und zudem der Bedeutung der Natur sowie Anwohner- und Bürgerinteressen Rechnung trägt.
Aus über 20 Maßnahmenvorschlägen wurde eine integrale Lösung mit einem Gesamtvolumen von 31 Mio. € erarbeitet. Diese umfasst neben der baulichen Sanierung der Lutter auch den Bau von Bypässen sowie die Errichtung zweier Regenrückhaltebecken mit intelligenter Bckensteuerung. Im ersten Abschnitt des Gesamtvorhabens werden ein Regenrückhaltebecken, die Bypässe sowie 800 m Kanal in offener Bauweise saniert; im zweiten Bauabschnitt werden weitere 1.200 mit einem GKF-Liner saniert. Die im Frühjahr 2015 begonnene Erneuerung wird planerisch von der Kölner ZERNA Planen und Prüfen GmbH betreut.
Mit der Planung und Ausführung der in offener Bauweise durchzuführenden Sanierungsarbeiten beauftragt wurden die auf Ingenieurplanung im Kanalbau spezialisierte Borkener H+S GmbH & Co. KG und die ebenfalls in Borken ansässige Klaus Stewering Bauunternehmung GmbH & Co. KG. Für die Sicherung der 5 m breiten und 5,50 m tiefen Baugruben im engen Altstadtbereich von Bielefeld setzt das Tiefbauunternehmen den gestuften Linearverbau von Emunds+Staudinger ein, einer Produktmarke der thyssenkrupp Infrastructure. Neben wirtschaftlichen Vorteilen kann das Verbausystem auf der Baustelle vor allem seine technologischen Stärken ausspielen – und das sowohl in der Handhabung bei Ein- und Ausbau als auch mit Blick auf die statische Leistungsfähigkeit hinsichtlich der engen Wohnbebauung und des breiten Querschnittes der Baugrube.
Die Lutter kommt ans Licht
Bereits im Mittelalter litt die 1214 an einer Kreuzung wichtiger Handelswege gegründete Stadt Bielefeld an Wasserknappheit. 1452 wurde die sogenannte Bielefelder Lutter so umgeleitet, dass ihr Wasser dem Graben zwischen Bielefelder Alt- und Neustadt zugeführt wurde. Der offen angelegte Lutterkanal wurde sowohl zur Trinkwasserentnahme als auch für die Abwassereinleitung genutzt, die Mühlen, Bleichen und Spinnereien der Stadt bezogen ihr Brauchwasser ebenfalls aus dem eigens umgelenkten Lutterbach.
Im ausgehenden 19. Jahrhundert war es mit der privaten Nutzung des Lutterwassers jedoch vorbei. Die Lutter stank den Anwohnern in der Bielefelder Altstadt, und das im wahrsten Wortsinn: Die zunehmende Industrialisierung bewirkte eine anhaltende Verschmutzung des Gewässers, die Einleitung von Fäkalien und der lediglich geringe Trockenwetterabfluss von nur 40 l/s führten zu einer immensen Geruchsbelästigung. Um Abhilfe zu schaffen, wurde die Lutter 1898 auf einem Abschnitt von rund 2 km Länge unter die Erde verbannt.
Inzwischen hat der Zahn der Zeit an dem Maulprofil aus unbewehrtem Ortbeton genagt – nicht nur der Erddruck hat dem Gewölbe zugesetzt, sondern von unten drückt Grundwasser und von oben der Straßenverkehr, der täglich durch Bielefelds Altstadt fließt. Diplom-Ingenieur Michael Haver vom Umweltbetrieb der Stadt Bielefeld erläutert die Folgen: „Im gesamten Profil waren Längsrisse aufgetreten, teils haben wir bereits Scherbenbildung festgestellt.“
Betroffen waren nicht nur der Wand- und Deckenbereich, sondern auch die Kanalsohle. Drainageleitungen hatten sich nach und nach zugesetzt, wodurch der Wasserdruck mit der Zeit stieg. Die Folgen: „Die Sohle hatte sich angehoben und die Wasserspiegellage sich so verändert, dass in der Mitte der Sohle nur noch eine geringe Wassertiefe zu verzeichnen war“, so Haver. Grundwasser war eingetreten und Sand eingespült worden, die Statik des Bauwerks so in Frage gestellt, dass bereits 2013 eine Betonsohle zur Stabilisierung eingebracht wurde.
Ausreichender Speicher für Starkregen
Dass saniert werden musste, stand außer Frage. Eine Antwort auf die Frage nach der richtigen Vorgehensweise zu finden war schon schwieriger – neben den beengten Platzverhältnissen in der Bielefelder Altstadt war unter anderem ein alter Baumbestand zu beachten, der tunlichst erhalten bleiben sollte. Nach sorgfältiger Abwägung zwischen einer Vielzahl von Vorschlägen entschied die Stadt schließlich zugunsten einer Lösung, die offene und grabenlose Sanierung kombiniert. Auf einem Teilstück der Strecke wird ein GFK-Liner eingezogen – eine Maßnahme, durch die der Kanal auf dem betreffenden Abschnitt allerdings rund 30% seines Volumens einbüßt. Folglich müssen im Zuge der Arbeiten auch zwei neue Regenrückhaltebecken geschaffen werden.
Die sind auch dringend nötig, denn aufgrund der starken Flächenversiegelung fällt in der Bielefelder Innenstadt vergleichsweise viel Oberflächenwasser an. „Bei Starkregenereignissen können aus durchschnittlich 40 l/s, die bei Trockenwetterabfluss anfallen, schnell 24.000 l/s werden; in Spitzenzeiten wurden auch schon mal 37.000 l/s gemessen“, so Haver. Im Zuge der umfassenden Baumaßnahme werden jetzt entsprechende Kapazitäten geschaffen: Ein neues Regenrückhaltebecken an der Teutoburger Straße soll ein Fassungsvermögen von 6.000 m3 bieten, ein zweites Becken im Altstadtpark bietet weitere 1.500 m3 Speichervolumen. Für zusätzliches Stauvolumen sorgen die neuen Rechteckprofile, die auf 800 m Länge im Innenstadtbereich eingebaut werden.
Zukünftig Rechteckprofil
Im Mai 2015 begann die Stewering Bauunternehmung mit der Verlegung der ersten Rechteckprofile. Vorab wurden zunächst verschiedene Versorgungsleitungen umgelegt und im ersten Bauabschnitt zwischen Teutoburger Straße und August-Bebel-Straße ein neuer Schmutzwasserkanal aus Steinzeug in der Nennweite DN 700 verlegt. Der über dem alten Lutterkanal verlaufende alte Schmutzwasserkanal wurde dann provisorisch umgeklemmt, und sämtliche Hausanschlussleitungen in den neuen Sammler eingebunden. Auf der gegenüberliegenden Seite der Baugrube entsteht, sukzessive mit dem Baufortschritt, ein zweiter neuer Sammler DN 250, in den die Hausanschlüsse auf dieser Straßenseite dann nach und nach eingebunden werden. Gleichzeitig wird der alte gemauerte Kanal zurückgebaut. „Nach dem Abbruch des Gewölbes wird das seitliche Mauerwerk abgefräst und dann eine Ausgleichsschicht aufgebracht, auf welche die neuen Rechteckprofile aufgesetzt werden können“, erläutert Stewering-Geschäftsführer Dipl.-Ing. Theo Heitkamp. „Im weiteren Bauabschnitt ab der August-Bebel-Straße wird das Vorgehen wiederholt.“
Flexibel und leistungsstark
Zur Sicherung der 5 m breiten und 5,50 m tiefen Baugrube setzt die Bauunternehmung auf den Linearverbau von Emunds+Staudinger – „eine Lösung, die sich im Vergleich mit verschiedenen Alternativen als die wirtschaftlichste Option erwiesen hat“, wie Heitkamp betont. Außerdem sind die Anforderungen, welche die Verhältnisse vor Ort an den Verbau stellen, hoch. „Der Einbau großer Profile (2,90m x 2,35m) erfordert einen großen Querschnitt der Baugrube und damit auch den Einsatz von schwerem Gerät“, erklärt Stewering-Polier Frank Stenert. „Zudem liegt der Grundwasserspiegel neben dem Kämpfer, sodass wir das Grundwasser während der Baumaßnahme fassen müssen“, so Stenert.
Hinzu kommt die Enge der Straßen in Bielefelds Altstadt mit einer Bebauung, die bis nah an die Baugrube reicht. Zwei Bagger sorgen für das Einbringen und den Rückbau der Elemente – einer schachtet aus, stellt die Verbauelemente ein und drückt diese während des Aushebens nach und nach ins Erdreich, der zweite Bagger erledigt den Rückbau. Ein zusätzlich eingesetzter Raupenkran hebt die jeweils 13 t schweren Rechteckprofile ein. Insgesamt sind fünf Felder des Linearverbaus im Einsatz. Jedes der 4,00 m langen Module besteht aus einer inneren und äußeren Grundplatte, die jeweils 2,32 m hoch ist, sowie äußeren, 1,32 m hohen Aufsatzplatten, 6,13 m langen Linearverbauträgern sowie Laufwagen.
Seitlich eingeschwenkt
Die Vorteile des Systems werden bereits beim Ansetzen des ersten Baufeldes deutlich. Nach der Vormontage der Trägerpaare mit den Laufwagen sowie den erforderlichen Verbreiterungen wurde der Graben für eine Feldlänge bis zu einer Tiefe von 1,50 m ausgehoben, bevor im nächsten Arbeitsschritt das erste Trägerpaar eingestellt wird. Anschließend schwenkt der zweite Bagger die äußeren Grundplatten in die 6,13 m langen Träger ein – nicht wie bei anderen Systemen üblich von oben, sondern seitlich kurz über Geländeniveau.
„Gerade auf Baustellen mit beengten Platzverhältnissen ist das ein echtes Plus“, erklärt Fachberater Dipl.-Ing. Wilhelm Heß, thyssenkrupp Infrastructure. Möglich wird diese Vorgehensweise, die sich gerade für den innerstädtischen Bereich immer wieder als besonders vorteilhaft erweist, durch die großen offenen Führungsprofile der Linearverbauträger. Sobald die Platten parallel zueinander und rechtwinklig zum Laufwagen ausgerichtet sind, kann das zweite Trägerpaar problemlos von oben in die Plattenenden eingeschoben werden.
Kraftschlüssig eingebaut
„Im Anschluss hebt der Bagger den Boden zwischen den Verbauelementen aus“, erläutert der Verbau-Experte die weitere Vorgehensweise. Der Voraushub für Platten und Träger ist jeweils bis an die Innenfläche der Verbauplatten vorzunehmen – der in seiner Position verstellbare Laufwagen sowie die glatten Innenflächen des Verbaus bieten dazu ideale Voraussetzungen. Beim Nachdrücken der Elemente wird das unter den Platten und Trägern verbleibende Erdreich abgeschnitten und fällt in den Graben unter den Platten, wodurch ein absoluter Kraftschluss zwischen Verbau und Erdreich zustande kommt.
Die biegesteife Rahmenkonstruktion des Laufwagens sorgt zusätzlich dafür, dass sich die Grabenbreite beim Absenken der Träger nicht verändert und Setzungen vermieden werden – ein weiterer Vorteil gegenüber herkömmlichen Verbausystemen mit festeingebauten Spreizen.
Alles läuft termingerecht
Pro Tag entstehen in Bielefeld derzeit rund 2,6 m des neuen Kanals. Mittlerweile sind bereits mehr als 60 der neuen Rechteckprofile gesetzt, und mit dem Fortschreiten der Arbeiten sinkt nach Aussage von Michael Haver auch das Überflutungsrisiko für die Bielefelder Altstadt. Trotzdem überlässt man vor Ort nichts dem Zufall – für die Dauer der jetzigen Bauphase hat die Stadt eigens ein Alarmsystem und einen Bereitschaftsdienst eingerichtet. 2017 sollen die im Mai 2015 begonnenen Arbeiten abgeschlossen sein. Die Chancen dafür, dass man den Termin einhalten kann, stehen gut – bisher liegt die Baustelle trotz vielfältiger Herausforderungen vor Ort im Plan, und sämtliche Beteiligte sind mit dem Fortschritt der Arbeiten hochzufrieden.
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