Intelligente Kanalinspektionsstrategien

18.09.2007

Welchen Nutzen bietet die Anwendung neuartiger Kanalprognosemodelle für bedarfsorientierte Inspektions- und prognosegestütze Sanierungsstrategien? Die Erfahrungen aus Dresden geben Antworten.

Seit Anfang der neunziger Jahre wird der Bauzustand der kommunalen Abwasserkanäle länder-spezifisch mit einer optischen TV-Inspektion erstmalig in zehn Jahren und danach in Fünfzehnjahresintervallen wiederholt untersucht. Nach etwa 80 % Inspektionsgrad der Erstinspektion wurde bundesweit ein enormer kurzfristiger Instandhaltungsrückstau festgestellt, der bei den vorhandenen jährlichen Investitionen erst in 30 Jahren beseitigt werden kann [5].
Bei näherer Untersuchung dieser Vorgehensweise hat sich mittlerweile herausgestellt, dass die Aktualität dieser konventionellen Zustandsdatenerhebung lediglich eine Effizienz von 5 % hat [3, 5, 7, 8].
Aus diesen Gründen wurde in dem Forschungsvorhaben bmb+f Selerin [3] eine intelligentere selektive Inspektionsstrategie zur Ersterfassung des Bauzustandes von Abwasserkanälen und Anschlussleitungen erfolgreich entwickelt. In Verbindung mit einer zustandsabhängigen bzw. ausfallprognoseorientierten Inspektionsstrategie [6] kommt dieser Erkenntnisvorsprung zu erheblichen Kosteneinsparungen ohne Qualitätseinbußen und führt zwangsläufig erheblich früher und kostengünstiger zur Zielerreichung eines sanierten Kanalnetzes als die konventionellen Inspektionsintervalle nach den länderspezifischen Eigenkontrollverordnungen (z.B. SüwVKan NRW etc.).
In den nachfolgenden Ausführungen wird an dem 766 km langem Mischwasserkanalnetz der Stadt Dresden [10] dargelegt, dass mit einer intelligenteren bedarfsgerechten (zustandsabhängigen bzw. ausfallprognoseorientierten) Inspektionsstrategie anstelle der festen Inspektionsintervalle nach der SüwVKan [11] in Verbindung mit einer Mindestzustands- und Substanzwerterhaltungsstrategie die Anforderungen des Runderlasses der SüwVKan [9] sowie des Leitfadens von Baden-Württemberg [6] erfüllt werden.
Zustandsdatenerhebung
Vom März 2003 bis April 2005 hat die Arbeitsgemeinschaft der Ingenieurges. Prof. Dr. Dr.-Ing. Rudolph + Partner mbH aus Dresden gemeinsam mit dem Sachverständigenbüro für Kanalsanierung Dipl.-Ing. Karl Jansen aus Kleinblittersdorf/Krefeld im Auftrag der Stadtentwässerung Dresden (SE DD) eine Zustandserfassung und -prognose für das 1.629 km lange Kanalnetz Dresden [10] erarbeitet.
Hierbei hatte die SE DD das Interesse an einer zuverlässigen Bewertung des Kanalnetzzustandes und dessen künftiger Entwicklung, um auf dieser Grundlage ein langfristiges Investitionskonzept erarbeiten zu können.
Hierzu sollte unter Verwendung der vorhandenen Stammdaten des Netzinformationssystems und der aus der bisherigen Eigenüberwachung bekannten Netzzustände von rd. 523 km eine Hochrechnung auf das Gesamtnetz von rd. 1.629 km unter Einbeziehung der nicht inspizierten Kanäle mit dem statistischen Prognosemodell AQUA-Selekt Version 3.0b, jetzt 4.0, [1] vorgenommen, eine Prognose und Kalibrierung der Netzalterung mit dem Alterungsprognosemodell AQUA-WertMin 6.1 [2] durchgeführt, Wiederbeschaffungswert und Abnutzungsvorrat (Substanzwert) der Kanalisation bestimmt und mögliche Sanierungsszenarien untersucht werden.
Das Kanalnetz der Stadt Dresden gliedert sich in vier Leitungstypen in Form der begehbaren Großprofile mit rd. 115 km Länge, der nichtbegehbaren Schmutzwasserkanäle mit rd. 418 km und Regenwasserkanäle mit rd. 330 km sowie der Mischwasserkanäle mit rd. 766 km Länge. Insgesamt sind etwa 520.000 Einwohner einschließlich der Stadt Freital an diese Kanalisation angeschlossen.
Grundlage der repräsentativen Inspektion und Zustandsdatenhochrechnung war eine konventionelle Erstinspektion von rd. 30 % des Gesamtnetzes. Eine ausführliche Beschreibung dieser selektiven Erstinspektion kann den Veröffentlichungen unter [3, 7, 8] entnommen werden.
Die Effizienz einer gezielten selektiven Erstinspektion ist enorm. Bei der konventionellen Vorgehensweise erfolgt die Inspektion der Haltungen gleichmäßig unabhängig von der Zustandsklasse. Nach einem Inspektionsumfang von z.B. 50% der Kanalisation sind auch 50% der Haltungen im kritischen Zustand erfasst.
Bei der gezielten Erstinspektion auf Basis der selektiven Kanalinspektion werden im Wesentlichen zunächst die Schichten untersucht, die einen möglichst hohen Anteil an stark schadhaften Haltungen aufweisen. Hieraus ergeben sich bei gleichem Inspektionsumfang zu Beginn deutlich höhere “Trefferquoten”, d.h. eine größere Effektivität, als bei einer konventionellen, flächendeckenden Inspektion.
Aufgrund dieser erhöhten Effektivität zu Beginn der gezielten Inspektion erwächst ein “Kenntnisvorsprung” an aufgefundenen Schäden gegenüber der konventionellen flächendeckenden Vorgehensweise.
Die Kosten-Nutzen-Betrachtung nach der bmb+f Selerin „Handlungsanleitung (Teil C“ [3] ergibt eine Wirtschaftlichkeit der selektiven Erstinspektion gegenüber einer konventionellen flächendeckenden Erstinspektion von Faktor 2,45 bei Kostenaufwendungen von etwa 1,7 Mio. € gegenüber 4,2 Mio. €.
Dem Kanalbetreiber erwächst somit bei aktuelleren Zustandsbefunden ein Kostenvorteil von rd. 2,5 Mio. €.
Sanierungsziele
In [7,8] wurden die mathematischen Modellansätze für die verschiedenen Inspektionsstrategien ausführlich dargestellt. Die nachfolgenden Auswertungen beschränken sich auf die praktische ingenieurmäßige Umsetzung und die daraus resultierenden Ergebnisse.
Hierfür wurden die Datenbestände der maßgebenden Sanierungsstrategie für das Teilnetz Mischwasserkanäle mit 766 km Länge und 21.506 Haltungen/Schächte zugrunde gelegt.
Der bisher festgestellte Instandhaltungsrückstau und die durch die Alterungsprognose aufgezeigte schleichende Netzzustandsverschlechterung sollten durch technische und kostenoptimierte Instandhaltungsstrategien begegnet werden. Gemäß dem Entwurf des Merkblattes DWA-M 143-14 „Sanierungsstrategien“ vom Januar 2005 [4] besteht das technische Ziel der Kanalinstandhaltung in der Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit und Standsicherheit sowie in der dauerhaften Dichtheit des Systems.
Darüber hinaus waren die Einhaltung des Anforderungsprofils zur Aussanierung des Kanalnetzes nach dem Runderlass NRW zur SüwVKan [9] vom 03.01.1995 sowie die Anforderungen der SüwVKan [11] (Mindestzustandsstrategie) zu beachten.
In finanzieller und wirtschaftlicher Sicht sollten die Kosten zur Erreichung der technischen Ziele bei mittelfristiger Betrachtung minimiert werden und die daraus resultierende Entgelt- bzw. Gebührenentwicklung verstetigt und vorhersehbarer sein.
Die Zielerreichung sollte vorrangig mit einer vorbeugenden Sanierungsstrategie in Form einer Mindestzustandsstrategie für die Zustandsklasse 1 (DWA ZK 0) in fünf Jahren und danach mit einer Substanzwerterhaltungsstrategie (Status quo) für die Zustandsklasse 2 (DWA ZK 1) (siehe nachfolgendes Bild) unter Einbeziehung einer prognostischen (ausfallprognoseorientierten) Kanalinspektion realisiert werden.
In der praktischen Umsetzung zur Erreichung des Sollzustandes sollen für Kanäle in den Zustandsklassen 1 (DWA ZK 0) und 2 (DWA ZK 1) je nach Strategie Erneuerungs-, Renovations- und/oder Reparaturverfahren zum Einsatz kommen. Für die Erfüllung der Anforderungen in der Zustandsklasse ZK 3 (DWA ZK 2) wurde in der Prognose vorausgesetzt, dass dies ausschließlich durch Instandsetzungsverfahren (Reparaturen) erfolgt. Die Zustandsverschlechterung mit Übergang in die Zustandsklassen 4->3, 3->2 und 2->1 (DWA ZK 3->2, 2->1 und 1->0) soll durch eine prognostische Inspektion überwacht werden.
Hierfür ist folgende Sanierungsleistung ab 2004 zukünftig erforderlich:
Vergleich konventionelle Erst- und Wiederholungsinspektion mit der Kombination selektiver und zustandsabhängiger Inspektionsstrategie
Zur Zielerreichung soll eine zustandsabhängige Erst- bzw. Wiederholungsinspektion auf der Grundlage der vorhandenen Inspektionen von 30 % des Netzbestandes in Verbindung mit einer repräsentativen Auswertung und Hochrechnung mit der Methode der selektiven Inspektionsstrategie dienen. Hierbei wurden die zustandsabhängigen Inspektionstermine programmintern von AQUA-WertMin ohne Vorlaufzeit bei individuellem Übergang von der Zustandsklasse 4 nach 3, 3 nach 2 und 2 nach 1 berechnet und mit einem GIS in einem Lageplan visualisiert.
Auf dieser Grundlage wurden manuell zusammenhängende Inspektionslose unterschiedlichste haltungweise Inspektionstermine von mindestens 5 Haltungen bis zu 500 m Tagesleistung zusammengefasst. Zwangsläufig ergab sich hierdurch für die nächsten zwei Intervalle von je 15 Jahren ein um etwa 30 % größeres (bereinigtes) Inspektionsvolumen.
Darüber hinaus ist im Vorlauf für den Korridor des prognostizierten Sanierungsprogramms ebenfalls eine zustandsabhängige Inspektion als Grundlage für die jährliche Sanierungsplanung durchzuführen. Bei ingenieurmäßiger Auswertung dieser budgetmäßigen Prognoseanteile für Erneuerung und Renovation sowie jährlicher Reparatur zur Werterhaltung der Zustandsklassen 1 und 2 (DWA 0 und 1) sind unter Einbeziehung der anderen städtebaulichen Randbedingungen (hydraulische Erneuerung, Straßenbau, Koordination mit Gas, Wasser etc.) praktikable zusammenhängende Sanierungsbaulose zu bilden, sodass auch hier zwangsläufig im Mittel etwa 30 % umfangreichere Inspektionen durchzuführen.
Dabei dienen die hereinkommenden Inspektionen gleichzeitig zur Verbesserung des Inspektionsgrades der Erstinspektion und zur Verifizierung des Zustandsprognosemodells sowie der prognostizierten Sanierungsstrategie.
Unter diesen Voraussetzungen ergeben sich zur Erreichung der langfristigen Sanierungsziele die nachfolgenden unbereinigten und bereinigten Inspektionsvolumina für die zustandsabhängige Inspektion ohne und mit Kombination des jährlichen Sanierungsprogramms. Als Vergleich hierzu wurden die Inspektionsraten der Erst- und Wiederholungsinspektionen für die ersten drei Intervalle nach der SüwVKan NRW [11] aufgetragen.
Fazit
Die konventionelle Inspektionsstrategie nach den Eigenkontrollverordnungen (SüwVKan, EKVO BW etc.) ist nur in geringem Maße für eine strategische Kanalsanierung aktuell verwendbar. Eine Kostensicherheit ist ebenfalls wegen der überalterten Inspektionsbefunde nicht gewährleistet. Darüber hinaus sind bei dieser Gegenüberstellung die zusätzlichen Inspektionsvolumina im Vorlauf für die jährliche Sanierung noch gar nicht enthalten.
Der Nutzen der ausfallprognoseorientierten Inspektionsstrategie in Verbindung mit einer prognosegestützten Sanierung gemäß dem Leitfaden Baden-Württemberg [3] besteht neben Zielerreichung nach [4] darin, dass immer im ausreichenden Maße aktuelle Inspektionsbefunde für die jährliche Kanalsanierung und Verifizierung des Prognosemodells zur Verfügung stehen. Darüber hinaus werden mit dieser Vorgehensweise mit erheblich geringerem Kosten- und Zeitaufwand die definierten Rahmenbedingungen und Zielsetzungen der Selbstüberwachungs- und Eigenkontrollverordnungen erfüllt.
Ein weiterer Nutzen ist die Gewährleistung der absoluten Kostensicherheit im Rahmen der prognostizierten Kostenentwicklung und somit auch der Werterhalt des Kanalvermögens.
Literatur

[1] AQUA-Selekt 4.0: EDV-Simulationsprogramm für selektive Kanalinspektionsstrategien. www.kanalinspektionsstrategie.de

[2] AQUA-WertMin 6.1: EDV-Simulationsprogramm für Alterungs- u. Zustandsprognosen sowie prognosegestütze Kanasanierungsstrategien. www.kanalprognosen.de

[3] bmb+f Selerin: Ideenwettbewerb Wasser-Abwasser „Entwicklung eines allgemein anwendbaren Verfahrens zur selektiven Erstinspektion von Abwasserkanälen und Anschlussleitungen“, Teil C: Handlungsanleitung (download unter http://www.kanal-software.de/pdfs/BMBF-Selerin_Teil_C_Handlungsanleitung.pdf ).
Kooperation der ISA RWTH-Aachen, Stadt Braunschweig, Gemeinde Marpingen, Entsorgungsverband Saar, Stadt Ingolstadt, SV-Büro Jansen. Veröffentlicht von der ISA der RWTH-Aachen im September 2002.

[4] DWA M 143-14: Sanierung von Entwässerungssystemen außerhalb von Gebäuden, Teil 14: Sanierungsstrategien, vom November 2005.

[5] Jansen, K. (2007): Erfordernis und Nutzen von Kanalprognosemodellen. bi-Umwelt, H. 4/2007, S. 68 + 69.

[6] Ministerium für Umwelt und Verkehr: Leitfaden für kostenminimierende Instandhaltung von Kanalnetzen. Baden-Württemberg vom Dezember 2000.

[7] Müller, K. (2007): Strategien zur Zustandserfassung von Kanalisationen. Band 7 der Aachener Schriften zur Stadtentwässerung vom Oktober 2005.

[8] Müller, K. (2007): Inspektionsstrategien entwickeln: „Zustandserfassung von Kanalisationen“. wasserwirtschaft wassertechnik, H. 3/2007, S. 10 ff.

[9] RdErl. NRW zur SüwVKan: Anforderungen an den Betrieb und die Unterhaltung von Kanalisationsnetzen. RdErl. D. Ministeriums für Umwelt, Raumordnung und Landwirtschaft, NRW vom 3.1.1995, Ministerialblatt f.d.Land NRW, Nr. 14, S. 251-253.

[10] SE DD (2005): Kanalnetzzustandsanalyse und -prognose vom Mai 2004 für das rd. 1.650 km lange Kananetz (SW, RW, MW und begehbare Großprofile) im Auftrag der Stadtentwässerung Dresden GmbH. Arbeitsgemeinschaft Ingenieurges. Prof. Dr. Dr.-Ing. Rudolph + Partner mbH in Dresden und Sachverständigenbüro für Kanalsanierung Dipl.-Ing. Karl Jansen Kleinblittersdorf/Krefeld.

[11] SüwVKan NRW: Verordnung zur Selbstüberwachung von Kanalisationen und Einleitungen von Abwasser im Mischsystem und Trennsystem - (Selbstüberwachungsverordnung Kanal - SüwVKan) NRW vom 16. Januar 1995, GV. NRW. S. 64.

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Dipl.-Ing. Karl Jansen (Sachverständigenbüro für Kanalsanierung)

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