Ein Bauwerk mit Geschichte und Bedeutung Der Zuckerberg ist ein malerischer Weinberg, in einer Neckarschleife nördlich von Stuttgart-Bad Cannstatt. Für die Stuttgarter Stadtentwässerung ist er von je her ein topografisches Hindernis für eine optimierte Trassenführung des öffentlichen Kanalisationsnetzes. Um die Hauptsammelkanalisation auf ihrem Weg zur Kläranlage Mühlhausen um mehrere Kilometer zu verkürzen, trieb man schon 1917 einen Stollen durchs Gebirge: Den "Zuckerbergstollen I". Nach 90 Jahren ständiger Volllast war aber in diesem Bauwerk berechtigterweise mit Verschleißerscheinungen zu rechnen; von den Ablagerungen eines Betriebsjahrhunderts ganz zu schweigen. Eine Inspektion oder gar Sanierung war jedoch unmöglich, solange keine Alternative für die Ableitung der Abwassermassen zur Verfügung stand. Deshalb entschloss sich der Eigenbetrieb Stadtentwässerung Stuttgart Anfang des Jahrzehnts zum Bau eines neuen, parallel verlaufenden Stollenbauwerks, der auch als Regenüberlaufkanal mit obenliegender Entlastung dient.
Der neue, am nördlichen Ende von Bad Cannstatt beginnende Zuckerbergstollen ist 2.750 Meter lang und hat einen Nenndurchmesser von DN 2600. Sein Trockenwetterabfluss liegt bei 1300 Liter pro Sekunde, die Maximalkapazität beträgt 2500 Liter pro Sekunde. Außerdem bietet der Zuckerbergstollen II 7250 Kubikmeter Stauvolumen. Das ist insoweit von Interesse, als der Zuckerbergstollen II mit einem Minimalgefälle von nur 0,04 % als Staukanal konzipiert ist und der Regenwasserbehandlung der vereinigten Abwasserströme von Stuttgart- Bad Cannstatt und Esslingen dient. Außerdem reguliert er den Zufluss im unmittelbar jenseits des Neckars gelegenen Klärwerk Mühlhausen. Beide Zuckerbergstollen enden unmittelbar vor dem Fluss im Sandfang Hofen. Der Stollen von 1917 fördert künftig das mechanisch vorgereinigte Abwasser aus dem RÜB Voltastraße in die Kläranlage, der neue die gesammelten Trockenwetterabflüsse der vorgenannten Gemeinden. Bei Regen wird über einen Regelschieber im Sandfang Hofen der Zufluss aus dem Zuckerbergstollen II reguliert und dessen Staukapazität je nach Bedarf genutzt. Bei Einstau kommt es zur Sedimentation der Schmutzfracht des zurück gehaltenen Mischwassers und zum Abschlag des so vorbehandelten Wassers in den Neckar. Nach Ende der Niederschläge entleert sich der Stollen im Freigefälle ins Hauptklärwerk.
Das Problem: 1200 Kubikmeter Ablagerungen über 2,7 Kilometer Aus diesem Betriebsmodus ergeben sich spezielle Reinigungsprobleme, zumal das Bauwerk aus Gründen der sichereren Begehbarkeit in der Sohle auf 1,20 Meter Breite bewusst flach und ohne echtes Gerinne ausgebaut ist. Eine Begehung des Stollens im Vorfeld der Reinigung ergab folgerichtig, dass der Bauwerksquerschnitt durch Sedimente um ca. 15% reduziert war – diese im Mittel 30 bis 40 Zentimeter Sedimente summieren sich rein mathematisch auf 2,75 Kilometer Länge zu einem Volumen von 1200 Kubikmeter und weit über 2000 Tonnen Masse.
Die Reinigungsexperten der Kanal-Türpe Gochsheim GmbH & Co. KG (Niederlassung NRW), die aufgrund ihrer breiten Referenzen bei der Reinigung von extrem dimensionierten Abwasserbauwerken durch das von der Stadtentwässerung Stuttgart beauftragte Ingenieurbüro Klinger und Partner, Stuttgart, zur Abgabe eines Angebots aufgefordert worden waren, prüften den Sachverhalt sehr kritisch. Denn eine Reinigungsstrecke von fast drei Kilometern bewegt sich im Grenzbereich dessen, was nach der physikalischen Theorie überhaupt machbar ist. Rein rechnerisch darf bei solcher Distanz von dem am Spülfahrzeug abgegeben Wasserdruck an der Düse fast nichts mehr ankommen. Die Reibungswiderstände des Schlauchinneren müssten den Druck restlos absorbiert haben.
Niederlassungsleiter Hermann Sigges und seine Mitarbeiter, allesamt altgediente Kanal-Routiniers, ließen sich aber von der Theorie nicht beeindrucken und wollten es genauer wissen. Sie stockten den hauseigenen Bestand an Ultraleicht-Spülschläuchen auf und fuhren mit diesem Equipment und dem stärksten hauseigenen Großprofil-Reinigungsfahrzeug in die freie Natur. Dort bewiesen sie in Versuchsreihen mit Flusswasser, dass trotz anders lautender Theorie noch Druck am Ende des Schlauches besteht.
Mit dieser Erkenntnis gestärkt, unterbreitete man der Stadtentwässerung Stuttgart über Ausschreibung ein Angebot zur Reinigung des Zuckerbergstollens. Ein kritischer Aspekt in den nachfolgenden Diskussionen war der kalkulierte Arbeitsaufwand, um das Spülgut über die vorhandene Länge aus dem Stollen zu schaffen. Da man sich im Regelfall mit der Spüldüse gegen Fließrichtung hinauf arbeiten muss, war absehbar, dass jeder Kubikmeter Ablagerungen aus dem oberen Reinigungspunkt bis zu seiner Bergung gleich mehrmals mobilisiert werden musste. Dies spielte sich dann auch genau so ab: die tiefer liegenden Stollenabschnitte musste man wiederholt reinigen, weil sie durch rücksedimentiertes Spülgut immer wieder neu verschmutzten. Dazu trug das erstaunlich hohe spezifische Gewicht des Spülgutes (1,6 bis 1,8 t/m³) entscheidend bei. Während der Reinigung gegen die Fließrichtung im unteren Stollenabschnitt ließ man einen kontrollierten Abwasserzufluss zu. Dessen Schleppkraft sollte das Spülgut so weit wie möglich transportieren und seine Sedimentationsneigung verringern.
Herausgehobene Bedeutung kam im Projekt Zuckerbergstollen der Erstellung eines Sicherheitskonzeptes zu. Um im Stollen arbeitendem Personal in jeder Situation Signale übermitteln zu können, musste eine Verständigungsmöglichkeit gefunden werden, die auch unter dem betriebsbedingten Lärmpegel funktioniert. Die Lösung lag in einer Pressluftsirene und einem einfach anzuwendenden Code akustischer Warnsignale.
Ein Kernproblem der Sicherheit im Abwasserkanal und erst recht in einem 2,7 Kilometer langen Rohr ohne Zwischenzugänge ist natürlich die Sauerstoffversorgung bzw. die Unterdrückung gefährlicher Gaskonzentrationen. Vollatemschutz für die Mitarbeiter schied als Option wegen der extremen Wege praktisch aus. Wie Versuche ergaben, ist im Zuckerbergstollen-Sediment prinzipiell eine Marsch- bzw. Fluchtgeschwindigkeit von 1 km/h realisierbar - nur eben nicht in Vollatemschutzausrüstung. Die schließlich praktizierte Alternative war die Belüftung des Bauwerks. Ein starkes Gebläse drückte während der Arbeiten vom Kopfende des Stollens her stündlich 50.000 Kubikmeter Luft in die Riesenröhre – eine ca. 2,5-fache Sicherheit bei der geforderten Luftmenge.
Dennoch wurde, um jedes Risiko zu auszuschließen, von vornherein eine personalautarke Arbeitsweise gewählt. Da sich Schwefelwasserstoff (H2S) in der Sedimentschlammschicht bildet, ist mit seiner konzentrierten Freisetzung speziell während des Spülvorgangs zu rechnen; aus diesem Grunde wollte man trotz Belüftung kein Personal „an der Düse“ einsetzen, um sie zu führen.
Im Zuckerbergstollen kam über den gesamten Zeitraums das "Flaggschiff" des Türpe-Fahrzeugparks zum Einsatz: Der Saug-Spül-Kombi Assmann 19,0 / 229 P-WRG IV ist ein vierachsiges Reinigungsfahrzeug höchster Leistungsklasse speziell zur Säuberung verschmutzter Großprofile. Aus dem Fassvolumen sowie seitlich angeordneten 4000-Liter-Wassertanks werden zwei parallel betriebene 250 bar-Pumpen mit jeweils bis zu 291 Liter pro Minute beschickt. Die Einsatzzeit des Fahrzeuges vor Ort wird durch ein dreistufiges Wasserrückgewinnungssystem deutlich verlängert. Das Werkzeug im Kanal ist eine 50 Kilogramm schwere Flach-Spüldüse, ein sogenannter "Scraper". Die spezielle Geometrie der Austrittsdüsen des Scrapers sorgte dafür, dass der 1,20 Meter breite Sohlbereich des Zuckerbergstollens in voller Breite mit Wasserdruck beaufschlagt und das Sediment dadurch gleichmäßig mobilisiert wurde. Dass diese 50 Kilogramm schwere Düse in den Kanal vorarbeiten konnte, wäre allerdings kaum möglich gewesen ohne Einsatz ultraleichter Hochdruck-Spülschläuche mit geringstem Metergewicht. Das im jeweiligen Stollenausgang heran geförderte Räumgut wurde dann von zwei riesigen Vakuumpumpen aufgenommen.
Vor Beginn der Reinigungsarbeiten wurde der Stollen außer Betrieb genommen, leer gepumpt und unter den oben genannten Sicherheitsbedingungen begangen. Um den Spagat zwischen extremen Reinigungsstrecken und der Rücksedimentation des Spülgutes und einer wirtschaftlichen Optimierung des Arbeitsaufwandes zu bewältigen, verfielen die Großprofil-Profis auf einen unkonventionellen Kunstgriff, der durch das ungewöhnlich geringe Gefälle im Stollen möglich wurde. Im ersten Projektabschnitt reinigten sie den Kanal gegen die Fließrichtung und zogen das Spülgut am Kopfende des Stollens ab. Nachdem der obere Teilbereich sauber war, wechselte das Team zum Bauwerk Sandfang Hofen, um vom unteren Stollenausgang her in Fließrichtung zu reinigen. Der angesichts des geringen Gefälles und des schweren Sediments befürchtete Effekt der mehrfachen Rücksedimentation trat wie erwartet ein. Und so musste nach der Reinigung des unteren Abschnitts die Reinigung im oberen noch einmal wiederholt werden, um dort zurück geströmtes Spülgut zu entfernen. Das spezifische Gewicht des Spülgutes hatte eine weitere logistische Konsequenz: Die zum Abtransport bereitgestellten Mulden konnten jeweils nur halb gefüllt werden, um die zulässigen Transportgewichte einzuhalten, wodurch sich die Zahl der notwendigen Transportvorgänge wesentlich erhöhte.
Letztlich konnte der Zuckerbergstollen II aber dennoch innerhalb der zur Verfügung gestellten Zeit grundgereinigt werden. Am 18.09.2008 fand die Begehung mit anschließender Videoaufzeichnung statt. Für Licht sorgte eine speziell für diese Rohrdimension aufgebaute Beleuchtungseinheit. Die Aufzeichnung selbst erfolgte mit einer Handycam hoher Auflösung. Allen Beteiligten fiel der buchstäbliche „Stein“ vom Herzen: Eines der längsten Abwasserbauwerke der Welt war erstmals erfolgreich gereinigt worden. Für die Reinigungsexperten von Kanal-Türpe Gochsheim GmbH & Co. KG ist das Projekt Zuckerbergstollen eines der technischen Highlights in der Unternehmensgeschichte.